Funkelnde Fragmente von Emrah Serbes
Emrah Serbes, 1981 in Yalova geboren, gehört unbestritten zur ersten Garde jüngerer Schriftsteller in der Türkei. Seine Krimis um den desillusionierten Polizisten Behzat Ç. genießen in seiner Heimat Kultstatus und wurden für eine sehr erfolgreiche TV-Serie (Drehbücher von Erkan Mehmet Erdem und Emrah Serbes) adaptiert. Im vergangenen Jahr überzeugte Serbes mit dem fulminanten Erzählband junge verlierer. Im Berliner binooki Verlag, spezialisiert auf engagierte Literatur aus der Türkei, erscheinen auch Serbes Bücher in deutscher Übersetzung. Zuletzt erschien Fragmente, der bislang vieleicht persönlichste Serbes.
Das habe ich sehr oft gehört: »Den Schriftsteller XY liebte ich wirklich sehr, aber nach dem, was er sich neulich geleistet hat, denke ich nicht daran, noch mehr von ihm zu lesen.« Also bedeutet das: Wenn du zur Zeit von Dostojewski gelebt hättest, hättest du ihn nicht gelesen, weil er ein Spieler war. Man sollte das Privatleben von Schriftsellern einfach außen vor lassen. Man sollte das, was Schriftsteller sagen, nicht ernst nehmen. In der Literaturgeschichte tummeln sich viele schlimme Typen, die Wunderbares geschrieben haben.
Schlaglichter auf den Irrsinn des Lebens
Fragmente ist eine Sammlung kurzer und kürzester Texte, die Serbes in den vergangenen Jahren auf einem türkischen Literaturblog veröffentlicht hat. Mal sind es kurze Gedankensplitter, mal längere Abschnitte, die beinahe wie Versuche zu kleinen Erzählungen wirken, dann aber abgebrochen oder aufgegeben wurden. Es liegt in der Natur der Sache, dass diese ebenso melancholischen wie heiteren Bruchstücke, die mit enigmatischen Schwarzweißphotographien von Ümir Bektaş ergänzt und kontrastiert werden, sich nicht zu einem geschlossen Ganzen runden wollen. Doch gerade das macht dieses Bändchen so reizvoll. Serbes gewährt Einblicke in seine persönliche Gefühls- und Gedankenwelt, läßt sich vom Leser über die Schulter schauen, wenn er seinen Alltagsbeobachtungen nachhängt, Geistesblitz notiert, wenn er Erinnerungen an seine Jugend, an fähige und unfähige Lehrer und an verflossene Lieben in Worte fasst. Serbes Fragmente changieren zwischen Tagebucheintrag, Aphorismus und erzählerischem Torso.
Einen Unwissenden haben sie in den Sherwood Forest geschickt. Der hackte Robin Hood die Hand ab und kam wieder zurück.
Was auf den ersten Blick manchmal wirken mag wie hinreißende Albernheit, entpuppt sich bei näherem Hinsehen in nahezu allen Fällen als tiefer Gedanke. Nähe und Distanz wechseln sich ab. Serbes direkte Sprache und sein ehrlicher Ton ziehen den Leser schnell ins Vertrauen. Man folgt ihm gerne auf seinen schelmischen Spuren durch den türkischen Alltag, hört ihm gerne zu, wenn er, ein Privileg der Jugend (?), ungehobelt und offen Wahrheiten ausspricht oder auch politische Misstände anprangert. Oft wird gegen verknöcherte Traditionen angedacht und angerannt und, das ist auffälig, gleichzeitig die Lebensweisheit und -erfahrung der älteren Generation geschätzt und anerkannt.
Kritik an politischen und sozialen Problemen der Türkei zieht sich wie ein roter Faden durch Serbes’ Werk, so auch durch Fragmente. Wegen Beleidigung des türkischen Ministerpräsidenten stand er vor zwei Jahren vor Gericht und seit er aktiv an den Istanbuler Gezi-Protesten im Sommer 2013 mitgewirkt hat, gilt er in der Türkei auch als ein »Schriftsteller des Volkes«.
Politische und gesellschaftliche Themen schwingen mit; Doch am meisten berühren die melancholischen Momente, wenn Serbes die Allgegenwart des Todes erkennt, sie zu fassen und ihr auszuweichen versucht, oder wenn er über die Vergänglichkeit von Leben und Liebe nachdenkt. Nicht Trübsal steht am Ende, sondern die Erkenntnis, nein, die Aufforderung, sich dem Irrsinn des Lebens lachend zu stellen. »Was soll das Ganze?« Eine Frage, die sich jeder schon einmal gestellt hat. Serbes versteckt in seinen Fragmenten die simple, aber beruhigende Antwort, dass der, der mit wachen Augen und offenem Herzen durchs Leben geht, die Wahrheit schon finden wird, aber nur dann, wenn er die Frage zuvor einfach vergisst.
Mit meinem heutigen Wissen hätte ich das nicht so gemacht. Aber wenn du es früher nicht so gemacht hättest, hättest du auch nicht dein heutiges Wissen.
Die Konsequenz darf man nicht zum Tarnmantel der Charakterlosigkeit werden lassen.
Wie sehr Inci Bürhaniye und Selma Wels, den beiden Verlegerinnen bei binooki, Serbes am Herzen liegt, zeigt der Umstand, dass letztere Fragmente selbst ins Deutsche übersetzt hat; eine anstrengende, aber wundervolle Arbeit, wie sie in einem Blogbeitrag freimütig bekennt.
Junge Verlierer – Der schwere Schritt vom Kind zum Mann
Auf den hinteren 30 Seiten des Büchlein folgt den insgesamt 68 Fragmenten noch die bislang unveröffentlichte Erzählung Gallip İşhanı. Darin geht es um zwei Freunde, die unerwiderte Liebe zu einer Krankenschwester, um viele stark blutende Verletzungen und die Erkenntnis, sich durch einen anderen nicht erklären zu können. Diese Erzählung hätte ohne weiteres auch in den Band junge verlierer gepasst.
Die Texte befassen sich alle mit dem steinigen Weg vom Kind zum Mann und den damit verbundenen Schmerzen, Fatalitäten und Glücksgefühlen. Das Streicheln durch Mädchenhaare, Fußballspiele, Demos, der Militärdienst, Lehrerinnenbeine, Liebe, Trauer und Familie; all das und mehr ist Serbes’ Material für lustige und ernste, aber niemals weinerliche Geschichten. Ein authentischer Einblick in den Alltag der türkischen Großstadtjugend, der sich, so die Erkenntnis, von dem in unseren deutschen (oder in anderen europäischen) Städten gar nicht so sehr unterscheidet. Die Erzählungen in junge verlierer klingen lange nach und bewegen Herz.
Fragt die Torhüter, die in letzter Minute den gegnerischen Strafraum stürmen, um ein Tor zu machen. Die kennen die türkische Seele am besten.
Auf den Webseiten des binooki Verlages findet sich eine Leseprobe von Fragmente.

Und die Erzählung Gallip İşhanı
Aus dem Türkischen von Selma Wels
Gebunden, 180 Seiten
Berlin: binooki Verlag 2015


Erzählungen
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny
Gebunden, 168 Seiten
Berlin: binooki Verlag 2014
