Beckett, Berlin & das Schillertheater
Samuel Beckett ist für mich eine der faszinierensten und bedeutensten Persönlichkeiten des literarischen 20. Jahrhunderts; aufmerksamen Lesern dieses Blogs dürfte das nicht entgangen sein. Deshalb kann und darf an einem Gedenktag wie dem heutigen Geburtstag des Schriftstellers, Dramatikers und Lyrikers eine kleine Hommage nicht fehlen. Im Fokus steht Becketts einzige Arbeit als Operntexter. Sie entstand in Berlin bei einem Treffen Becketts mit dem amerikanischen Komponisten Morton Feldmann. Aus anfänglichem Widerwillen entsprang zunächst nur eine spontane Idee, eine kleine Notiz, die dann sorgfältig ausgebaut wurde. Neither ist am Anfang des Sommers wieder in der Berliner Staatsoper zu sehen und zu hören. In einem Theaterexperiment, das so viel genius loci besitzt wie selten eines zuvor.
Feldmann trifft Beckett
Im Berliner Schillertheater inszenierte Samuel Beckett 1976 die Erstaufführung seines Dramas Footfalls. Während einer Probenpause kam ein Mann auf die Bühne, um den Dramatiker kurz zu sprechen. Beim Versuch Beckett die Hand zu schütteln erwischte der kurzsichtige Mann nur dessen Daumen, die Hand rutschte ab, er stolperte über einen Vorhang und fiel hin. So begegneten sich Samuel Beckett und der Komponist Morton Feldmann. Später beim Mittagessen in einem Restaurant in der Nähe des Theaters erläuterte Feldmann seinen Plan eines Opernprojektes auf Grundlage eines Textes von Beckett. Doch alles, was er mit den bereits veröffentlichten Stücken ausprobiert habe, so erläuterte Feldmann, funktioniere einfach nicht, weil die dichte, perfekte Sprache Becketts der Musik keinen ausreichenden Raum mehr ließe. Deshalb sei er gekommen, um sich einen neuen Text zu wünschen. »Mr. Feldmann, ich mag keine Opern.« Sagte Beckett und Feldmann erwiderte: »Ich kann’s Ihnen nicht verdenken.« Dann kritzelte Beckett einen Satz auf ein Notenblatt, das Feldmann ihm zuvor gezeigt hatte.
»Hin und her, im Schatten, vom äußeren Schatten in den inneren Schatten. Hin und her, zwischen unerreichbarem Ich und unerreichbarem Nichtich.« Das sei ein mögliches Thema, fügte Beckett hinzu, vielleicht denke er weiter darüber nach, er ließe dann von sich hören. Wenige Wochen später erreichte Feldmann eine Postkarte. »Hier ist Ihr Opernlibretto. Gut war’s, Sie kennenzulernen.« Auf der Rückseite der handschriftliche Text zu Neither, von Beckett nie als Gedicht bezeichnet.
Neither
to and from in shadow from inner to outer shadow
from impenetrable self to impenetrable unself
by way of neither
as between two lit refuges whose doors once
neared gently close, once away turned from
gently part again
beckoned back and forth and turned away
heedless of the way, intent on the one gleam
or the other
unheard footfalls only sound
till at last halt for good, absent for good
from self and other
then no sound
then gently light unfading on that unheeded
neither
unspeakable home
Weder
hin und her in Schatten von innerem und äußerem Schatten
von undurchdringbarem Selbst zu undurchdringlichem Unselbst
durch Weder
wie zwischen zwei lichten Zufluchten, deren Türen sobald
nähergekommen sacht schließen, sobald abgewendet
sacht wieder öffnen
von und zurück gelockt und abgewiesen
achtlos des Wegs, gerichtet auf einen Schimmer
oder den anderen
ungehörter Tritte einziger Laut
bis endlich still für immer, fern für immer
vom Selbst und zum Anderen
dann kein Laut
dann schwaches Licht unnachgiebig auf jenem unbeobachteten
Weder
unaussprechliches Heim
Neither und Footfalls in der Berliner Staatsoper
Feldmann Musik zu Neither besteht aus fahlen, meditativen Versatzstücken. Mitunter schwingen sich in dem krächszenden und kratzenden Grundton kurze Melodiebögen auf, um gleich wieder zu verschwinden. Der große Musikapparat im Orchestergraben produziert Klänge, die auf ein Minimum reduziert sind, oft geisterhaft wie aus dem Halbschatten herüberwehend. Den Text singt eine Sopranstimme. Vokale, einzelne Worte werden endlos gedehnt und wiederholt, nur hin und wieder sind Sätze oder Satzteile zu verstehen.
Die Regisseurin Kati Mitchell hat Neither für die Berliner Staatsoper im vergangenen Jahr inszeniert. Sie hat Feldmanns Oper das Drama Footfalls vorangestellt. (Der Trailer dazu ist oben zu sehen.) Beide Stücke sind, wie oben berichtet, eng mit dem Schillertheater verbunden, in dem die Staatsoper derzeit residiert, und beide Stücke handeln vom Vergessen und Erinnern, einem der großen Leitthemen im beckettschen Werk. Die Produktion Footfalls/Neither steht im Juni im Rahmen von Infektion! Festival für neues Musiktheater erneut auf dem Spielplan der Staatsoper (die vier Termine hier). Ich kann diesen eindringlichen Beckettabend nur empfehlen. Für ihn lohnt eine Reise nach Berlin.
Hier für alle, die Neither von Morton Feldmann gerne in voller Länge anhören möchten, ein weiteres Video. Im Bild passiert nichts, aber in der Musik bewegt sich einiges.
Edit: Das Video ist inzwischen bei Youtube entfernt worden, weil mehrfach Urheberrechtsverletzungen beanstandet wurden. (3.11.2015)