Im Gestein – »wir leben hier, seit wir geboren sind« von Andreas Moster
Ein Mann kommt in ein Dorf und mit ihm bricht das Fremde ein in die über lange Zeit gewachsene und verhärtete Gemeinschaft. Der fremde Besucher bringt ein (vermeintlich) feste Gefüge ins Wanken und schließlich zum Einsturz. wir leben hier, seit wir geboren sind von Andreas Moster ist einer jener Romane, die den Leser auf den ersten Seiten gefangen nehmen und bis zum Ende nicht mehr loslassen.
Ich weiß nicht, was geschehen wird, wenn er hierbleibt, wenn er nicht geht, das Dorf nicht verlässt. Wenn die Wut unserer Väter an den Nähten aufreißt und die Tiere durch die Straßen ziehen, um mit weißen Augen zu fressen.
Das entlegene Bergdorf ist eine in einer Kapsel gefangene Welt. Wie ein Katalysator bringt der Fremde die aufgestauten Energien im Dorf zur Entladung. Er heißt Georg Musiel, eine Figur gezeichnet wie von Kafka. Georg ist ein einsamer Mann, ein kleiner Angestellter, ein in sich gekehrter, kränkelnder Mensch, der sich selbst verletzt aus Angst oder Lust. Georg ist gekommen, um zu prüfen, ob der Steinbruch, von dem das Dorf lebt und abhängig ist, noch rentabel ist. Der Besitzer, ein anonymer Großunternehmer, hat ihn aus der Stadt in die abgelegene Bergregion geschickt. Er kommt mit der Eisenbahn.
Begriffe unserer Zeit wie Rentabilität, Effizienz, Bilanz oder Buchprüfung kommen im Text nicht vor. Andreas Moster entwirft ein flirrend zeitloses Tableau. Es gibt zwar die Eisenbahn und im Steinbruch eine Maschine, die das Gestein zerkleinert, aber gleichzeitig sind Esel das wichtigste Transportmittel. Das Alltagsleben in den Häusern und das Brauchtum des Dorfes werden beschrieben, als ob die Zeit irgendwo vor 50 oder 100 Jahren stehengeblieben sei. Und doch passiert (auch) heute, was hier passiert. Moster zeigt, wie die Literatur Vorhandenes, Erwartbares und Denkbares vortrefflich mischen und über den Haufen werfen kann.
Argwöhnen die Männer im Steinbruch in Georg eine Bedrohung und einen Sündenbock für alle wirtschaftlichen und existentiellen Miseren, so meinen fünf Mädchen in ihm eine Art Heilsbringer zu entdecken. Sie, die an der Schwelle zum Erwachsenwerden stehen, verfolgen den Fremden, zeichnen seinen Körper (durchaus sexuell explizit), beobachten ihn, nähern sich ihm schüchtern, träumen. Sie hoffen mit seiner Hilfe ihrer engen Welt entfliehen zu können, die beherrscht wird von strengen Vätern und lüsternen jungen Männern. Sie verstecken Georg in einer Höhle im Wald, nachdem es bei der Inspektion des Steinbruchs zu einem tragischen Unfall gekommen ist. Dann verschwindet eines der Mädchen und beim großen Dorffest, einer Mischung aus Erntedank und archaisch-katholischen Initiationsritus für die jungen Frauen, kommt es zum Eklat und zur Katastrophe.
Was von außen betrachtet wie eine geschlossene und feste Gemeinschaft wirkt, erweist sich nach dem Eindringen des Fremden als eine fragile Ordnung, die nur auf Religion, Repression und Gewalt beruht, strukturelle, interfamiliäre und auch sexuelle Gewalt.
Andreas Moster erzählt das alles in größtmöglicher, literarischer Dichte, der schmale Umfang des Bändchens täuscht: wir leben hier, seit wir geboren sind konzentriert auf 175 Seiten alles, was einen großen Roman auszeichnet. Moster arbeitet mit Repetition und Rhythmus, spielt mit vagen Andeutungen und variiert eine Vielzahl von Motiven. Und doch bleibt der Text bei aller schwebenden Andeutung und Vieldeutigkeit immer transparent und luftig. Vor allem mit dem mehrfachen Wechsel der Erzählerstimme und -perspektive treibt Moster ein riskantes Spiel, aber er beherrscht es. Traumwandlerisch sicher entgeht er der Gefahr, die aufgeladene Vielschichtigkeit seiner düster-archaischen Erzählung auf dem Altar der Übermotivation zu opfern. Alle Figuren bleiben einem lange im Gedächtnis, das schaffen nur die wenigsten Romane.
Sprachlich und konzeptionell ragt dieser Roman weit aus der (teils doch sehr eng konfektionierten und glanzlosen) Masse der (in Schreibschulen glattgeschliffenen) deutschsprachigen Literatur heraus. Es ist ein veritabler Paukenschlag, mit dem Andreas Moster auf die literarische Bühne besteigt. Mit wir leben hier, seit wir geboren sind liefert er ein wagemutiges und grandioses Debüt ab, einen literarisch eigenen und dichten Roman, der auf engstem Raum ein düsteres, archaisches Alpendrama entfaltet. Ein bärenstarkes Stück Literatur voller Gewalt, Kraft und Wucht.
Roman
Gebunden, 176 Seiten
Köln: Eichborn Verlag (bei Bastei Lübbe) 2017
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
Lesenswerte Besprechungen zum Roman auch bei literaturleuchtet, Zeichen & Zeiten, sowie Zeilensprünge. Dort auch ein Interview mit Andreas Moster.
Bildnachweis: Titelbild »Steggbauer – Hof um 1910 in Sappl am Millstätter Berg« | (eingestellt von JOADL) [Public domain] | Quelle: Wikimedia Commons