merk=würdig (X) – Und über dem Dümmer thront Pocahontas
Arno Schmidts Erzählung »Seelandschaft mit Pocahontas«
Hartnäckig hält sich das Vorurteil, Arno Schmidt erschließe sich schwer. Wer je von dieser Erfahrung gehört, gelesen oder sie selbst gemacht hat, der findet im Frühwerk Seelandschaft mit Pocahontas einen gangbaren Weg. Die »wohl schönste Liebesgeschichte« (Walter Kempowski) der deutschen Nachkriegsliteratur, »meine Lieblingserzählung« (Günter Grass), spielt im Sommer 1953 am Dümmer See und schildert eine mit Natur, Zeitkolorit und viel Erotik aufgeladene Urlaubsliebschaft.
Der Künstler Felix Scheinberger hat sich mit dem Skizzenbuch an den Dümmer auf die Spuren Schmidts begeben. Das Ergebnis ist eine vortrefflich illustrierte Ausgabe dieser Geschichte vom »Versuch zweier Einsamer, entgegen all ihren Erfahrungen zueinander zu finden« (Marius Fränzel). Dieses Bändchen aus der Officina Ludi ermöglicht einen leichten (wenn auch nicht vollständig barrierefreien) Zugang zur Schmidtschen Sprachkunst und der besonderen Atmosphäre und Leichtigkeit dieser Sommergeschichte.
Der Icherzähler Joachim Bormann, von Beruf Landvermesser und mittelloser Schriftsteller aus Berufung, unternimmt mit seinem Kriegskameraden Erich, einem wahrhaft proletarischen Malermeister, einen Motorradausflug an den Dümmer See im Südoldenburgischen. Dort bandeln sie mit zwei Sekretärinnen aus Osnabrück an, die eine drall-parat, die andere hager und empfindlich an Leib und Seele. Von Joachim und Erich zunächst noch ventilierte Kriegserinnerungen weichen schnell beschwingter Sommerlaune. Mit Selma, der hager-häßlichen, verlebt Joachim vergnügliche und unbeschwerte Stunden in der Natur, im Wasser und im Bett. Pocahontas tauft er seine Selma um, auch Undine nennt er sie, denn sowohl die indianische Prinzessin, als auch die Fouquesche Wassernixe haben einst ihre Geliebten vor dem sicheren Tod bewahrt. Der Tod ist und bleibt des Kriegsheimkehrers Joachim größter Schrecken.
Man paddelt, unternimmt Ausflüge zu Sehenswürdigkeiten, verplempert die Zeit, diskutiert über Politik, Literatur, und Christentum. Das ist heiter-zart in den Naturbeschreibungen, direkt und schnoddrig in der Betrachtung der politischen Nachkriegsrealität und dampfend fleischlich in Liebe und Sex.
Wir duckten uns unter den Nackenschlägen der Fallwinde, lange Staubwimpel an den Füßen. Nebenan in Selmas Bluse begann es bauschig zu ringen; der Rock schlüpfte ihr von hinten zwischen die Beine, entzückend kerbte sich das stürmische Gesäß.
Diese atmosphärischen Naturimpressionen bleiben selten folgenlos, sie verbinden sich mit erotischen Perspektiven.
Wir ritten sausend aufeinander davon: durch haarige Märchenwälder, Finger grasten, Arme natterten . . .
Arno Schmidt beweist einmal mehr, wie begnadet er sein Handwerk beherrscht; von der mit wenigen Strichen zart hingehauchten Skizze bis zum expressionistischen Holzschnitt mit klarer Kante, harten Kontrasten und tiefdunklen Flächen, der Text bietet eine beeindruckende Palette von Sprachbildern und Textminiaturen. Und in den Dialogen lauscht Schmidt einmal mehr mit spitzem Ohr auf Volkes Maul, um Alltagsjargon jeglicher Couleur in Literatur zu verwandeln.

Der Urlaub endet in einem gewaltigen Gewitter (einem letzten Beweis dafür, wie erbarmungslos und ungerecht die Natur ihren Geschöpfen gegenüber tritt) und einer durch verdorbene Speisen verursachte Übelkeit Selmas. Überhastet und in mürrischer Stimmung trennen sich die Wege der Paare, es bleiben nur die wie mit Bitzlichtern eingefangenen Erinnerungen.
Wolkenmaden, gelbbeuligen Leibes, krochen langsam auf die blutige Sonnenkirsche zu. Erich räusperte sich atheistisch: »Na, da wolln wer erssma ….« und wir marschierten zurück. (…) Mein Kopf hing noch voll von ihren Kleidern und ich antwortete nicht.
Pocahontas illustriert
Alice und Arno Schmidt haben im Juni 1953, wenn auch erst nach heftigen Diskussionen über die Kosten und Konsequenzen (Arno: »Pure Zeit- und Geldverschwendung.«), eine Reise zum Dümmer unternommen. Neben einer Fahrt über Hamburg nach London war dieser Ausflug an den Dümmer eine von lediglich zwei Reisen, die das Ehepaar gemeinsam unternahm. Für Arno Schmidt, den notorischen Schreibtischhocker und Workaholic, war der fünftägige Dümmerbesuch von vorneherein mehr Arbeitsausflug als Vergnügen. Bereits vor Antritt der Fahrt hatte er erste Ideen für eine Geschichte skizziert, die am Dümmer mit vor Ort recherchierten Fakten und eigenem Erleben unterfüttert werden sollten. Alice berichtet in ihrem Tagebuch, wie mürrisch und übelgelaunt Arno sich währdend des gesamten Aufenthalts aufgeführt habe. Doch als sie später das fertige Manuskript von Seelandschaft mit Pocahontas in Händen hielt, schrieb sie: »Es ist prachtvoll! Ganz wunderbar! Was ein großer Dichter ist doch Arno!«
Genau diese Reise hat Felix Scheinberger im Sommer 2012 wiederholt. Auf den Spuren der Schmidts und mit der Erzählung Seelandschaft mit Pocahontas in der Tasche umrundete er den Dümmer See. Für seine bildnerische Umsetzung des Schmidtschen Textes wählte Scheinberger drei thematische Schwerpunkte, den See mit seiner Landschaft, die kleinen Gegenstände des Alltags und natürlich die Erotik.

Scheinbergers Zeichnungen bilden nicht das Naheliegende ab, sind keine schlichte Nacherzählung der Geschichte, sondern verklammern die erzählte Zeit mit der Gegenwart und fügen eine weitere Dimension hinzu. Und da bereits die expressionistische Sprachkunst Schmidts erwähnt wurde, liegt es nahe hinter den nackt badenden, padelnden und flanierenden Figuren bei Scheinberger beabsichtigte Ähnlichkeiten zu Otto Müller oder Ernst Kirchner zu entdecken. Die Illustrationen wirken wie Einsichten und Kommentare eines aufmerksamen Lesers, festgehalten mit aquarellierten Wasserfarben und Zeichenstift. Immer sind sie treffend und lenken den Blick direkt zurück zum Text, nur damit er sich von dort erneut dem Bild zuwendet. Text und Illustration tanzen in dieser bemerkenswerten Ausgabe einen perfekten Pas des Deux. Unterstützt wird dieser Reigen vom ungewöhnlichen Querformat des Bandes, der aufgeschlagen wie ein breites Panorama mit den Maßen 20 cm x 50 cm vor dem Leser liegt.
Ein Fotoalbum
Der Schriftsteller Schmidt dachte selbst in Bildern. Seelandschaft mit Pocahontas stellte er als den ersten Versuch in der von ihm erfundenen Form des Fotoalbums vor. Dahinter steckt die Idee, eine Geschichte nicht als eine zwingend fortlaufende Handlung zu erzählen, sondern als Abfolge optischer Schlaglichter. In Berechnungen I, einer theoretischen Überlegung, die Seelandschaft mit Pocahontas beim Erstdruck in Text und Zeichen an die Seite gestellt wurde, erläutert Schmidt:
Man erinnere sich eines beliebigen kleineren Erlebniskomplexes, sei es »Volksschule«, »alte Sommerreise« – immer erscheinen zunächst, zeitrafferisch, einzelne sehr helle Bilder (meine Kurzbezeichnung: »Fotos«), um die herum sich dann im weiteren Verlauf der »Erinnerung« ergänzend erläuternde Kleinbruchstücke (»Texte«) stellen: ein solches Gemisch von »Foto=Text=Einheiten« ist schließlich das Endergebnis jedes bewußten Erinnerungsversuches.
Dieses Phänomen abrupt aufblitzender Erinnerungen kennt jeder vom Blättern im Familienfotoalbum. Die ersten visuellen (oder in anderen Zusammenhängen akustischen) Signale holen »kleinbruchstückig« weitere verschüttete Erinnerungsfetzen an die Oberfläche, die dann eine zwar geschlossenere, aber dennoch niemals wirklich vollständig erzählte Geschichte ergeben.
Die Fotos mit ihren zum Teil aus dem Unterbewussten hervorschnellenden Blitzen hat Arno Schmidt als selbstständige Prosaelemnte vor jedes der 18 Kapitel seiner Erzählung gestellt. In der Erstausgabe waren sie gerahmt und typografisch abgesetzt. Die Officina Ludi druckt sie lediglich in einer anderen Farbe. Auch die von Schmidt gerne genutzten Kleinabsätze löst sie auf und setzt im durchgehenden Blocksatz ebenfalls farbige Schrägstriche. Eine souveräne und nachvollziehbare Lösung, die der vorliegenden Ausgabe gut zu Gesicht steht.

Eine »unzüchtige Schrift«
Die Bibel: iss für mich ’n unordentliches Buch mit 50.000 Textvarianten. (…) Der „Herr“, ohne dessen Willen kein Sperling vom Dach fällt oder 10 Millionen im KZ vergast werden: das müsste schon ne merkwürdige Type sein – wenn’s ihn jetzt gäbe!
Das höllenfarbene Mädchen bog den schlanken Stielleib hinüber, Augen belichteten uns kurz, die Kleine wischelte einschlägig; und Erich fiel eben unnötigerweise aus der Rubrik „oberschlesisches Liebesgeflüster“ noch ein: „Warum nimmstu Fingärr?: Nimm doch IHN!“
Zwei von mehr als 10 in einer Strafanzeige inkriminierten Stellen aus Seelandschaft mit Pocahontas. Arno Schmidt (und Alfred Andersch, der Herausgeber der Zeitschrift Texte und Zeichen, in der die Erzählung zuerst erschien) wurden am 18. April 1955 in zwei Strafanzeigen der Gotteslästerung und Pornographie bezichtigt. Erst Ende Juli 1956, also vor 60 Jahren, wurde das Verfahren eingestellt. Bis dahin erlebte der Vorgang mehrere Wechsel der zuständigen Staatsanwaltschaften und erst ein abschließendes Gutachten von Hermann Kasack, dem Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, überzeugte die Juristen schließlich vom Offensichtlichen, nämlich, dass es sich bei dem Text um Literatur handele und somit die Äußerungen und Handlungen der Figuren nicht zwingend dem Verfasser anzulasten seien.
Heute wissen wir, die Katholische Kirche, genauer das Erbistum Köln, war es, das den strafanzeigenden Rechtsanwalt in die Spur geschickt hat. So albern und lächerlich das Verfahren aus heutiger Sicht wirken mag, damals war es beredter Ausdruck der Bigotterie der sogenannten Adenauerjahre. Gegen die hat sich Schmidt nicht nur innerlich aufgelehnt, sondern ihr in seinen literarischen Arbeiten und in zahlreichen Zeitungsartikeln Luft verschafft. Auch den katholischen Heinrich Böll trafen in den 1950er Jahren mehrfach ähnliche scharfe Angriffe und Verfahren.
Die Schmidts versetzte das Verfahren in Angst und Schrecken. Sie erwogen, nach Irland auszuwandern oder in die Schweiz, ja, selbst die »Ostzone« wurde kurzzeitig in Betracht gezogen. Zum Äußersten kam es nicht, aber das Dorf Kastel verließen Alice und Arno Schmidt dennoch. Kastel lag im Justizbezirk Trier und die panische Furcht, ausgerechnet im erzkatholischen Trier einen Prozess durchstehen zu müssen, führte zum »erzwungenen Wohnortwechsel«. Die Schmidts landeten in Darmstadt, in der Barberei, wie Arno mürrisch kommentierte. Auch wenn das Verfahren juristisch ohne Folgen blieb, das Leben des Schriftstellers lenkte es auf ungewollte und unangenehme Bahnen. Trotzdem (oder vielleicht gerade deswegen) hat Schmidt selbst Seelandschaft mit Pocahontas immer als eine seiner gelungesten Arbeiten bezeichnet.
Nicht einschüchtern lassen, einfach lesen
Natürlich protzt Schmidt auch in Seelandschaft mit Pocahontas mit einer Fülle von Zitaten, Verweisen und Anspielungen auf Literatur, Literaturgeschichte und (tote) Autoren. Aber die sattsam bekannte Schmidtsche Belesenheit mit ihrer selbstbewußt vorgetragenen Besserwisserei darf gerne ignoriert werden, der Text ist auch ohne Totalentschlüsselung sehr, sehr verständlich. Wer mag, darf auch die zwischen die Zeilen gehebelten harschen Urteile über Adenauerdeutschland, die Nazivergangenheit und die Kirche in den Hintergrund drängen.
Zuvörderst nämlich glänzt die Erzählung als eine zärtlich-derbe Liebesgeschichte, die in grandiose Landschaftsbeschreibungen eingebettet ist und in der bei aller Direktheit und Nacktheit immer wieder wahre Menschlichkeit aufblitzt. In der vorbildlich ausgestatteten und auf schweres Papier gedruckten Ausgabe der Officina Ludi heben die Zeichnungen Scheinbergers diesen Aspekt vortrefflich hervor. Ein Übriges besorgt Claus Lorenzens aufschlussreiches Nachwort (das am besten zuerst lesen!). Die ebenfalls beigefügte »Kleine Rede auf Arno Schmidt«, die Günter Grass 1964 als Laudatio bei der Vergabe des Fontanepreises auf seinen Kollgen gehalten hat, ist weniger hilfreich, schadet aber auch nicht.
Ideal für den Einstieg in den Schmidtschen Kosmos und sehr tauglich, hartnäckige Vorurteile über die Unlesbarkeit des »Haidedichters & Wortmetzes« aus dem Weg zu räumen. Also: Seelandschaft mit Pocahontas lesen!

Erzählung – Illustriert von Felix Scheinberger
Mit einem Nachwort von Claus Lorenzen und dem Anhang: »Kleine Rede auf Arno Schmidt« von Günter Grass
Gebunden, 84 Seiten
Großhansdorf bei Hamburg: Officina Ludi 2012
Mehr Infos und Bilder auf der Webseite der Officina Ludi