Krieg und Leben als totale Simulation – »Binde zwei Vögel zusammen« von Isabelle Lehn
Afghanistan liegt in Bayern, genauer im oberpfälzischen Hohenfels. Dort trainieren auf einem Stützpunkt US-Truppen für ihren Einsatz am Hindukusch. Damit der simulierte Krieg möglichst realistisch und glaubwürdig ausfällt, werden Zivilisten rekrutiert. Sie spielen, gegen Bezahlung und nach strengen Regeln, afghanischen Alltag. COB heißen diese gecasteten Akteure im Militärjargon, Civilians on Battelfield. Im Unispiegel 4/2005 hat einer von ihnen berichtet, wie es sich anfühlt, für 90€ pro TAg als ziviler Statist in den Krieg zu ziehen. Ein ähnlicher Augenzeugenbericht lieferte auch Isabelle Lehn die ersten Ideen zu ihrem Debütroman Binde zwei Vögel zusammen.
Albert schlägt sich als freier Journalist durch, er ist einer, der von »Nebenjob und Hauptjob, Brotjob, Projekten und Aufträgen« spricht, wenn er nach seiner Arbeit gefragt wird, nie von Beruf, Berufung und Erfüllung. Für eine »Story« läßt er sich als COB casten. Aus Albert wird Aladdin, der Betreiber eines Cafés. Alladdin muss einfach nur da sein, jeden morgen sein Café aufschließen, die Veranda fegen und dann abwarten, bis eine Anweisung erfolgt, hierhin oder dorthin zu gehen. Das Dorf ist von Stacheldraht eingeschlossen, der Stacheldraht ist das einzige reale, alles andere ist Simulation, Fake und Lüge.
Als erstes sieht man immer das Licht. Es löscht alles aus. Dann ist es still.
Der Tod ist hier niemals final. Ein Sensor, den jeder Darsteller in einem Geschirr mit sich herumträgt wie eine Sprengstoffweste wird bei einem Treffer zurückgesetzt und das »Spiel« beginnt von neuem. Morgens ziehen die Zivilisten aus ihren Unterkünften in das afghanische Dorf, abends verlassen sie es wieder, die Fastfood-Verpflegung ist gut und üppig bemessen, die Bezahlung o.k., nur wer vor Ablauf der vertraglich geregelten Frist abbricht, bekommt weniger oder gar nichts; die, die das Arbeitsamt geschickt hat, müssen Leistungskürzungen befürchten. Die Soldaten haben ihr eigenes Camp, dort spielen sie Basketball wie im Hinterhof in der Bronx, im Dorf laufen sie herum wie im Ego Shooter.
Als das ISAF-Training beendet ist, kehrt Albert zurück nach Berlin. Doch den Stacheldraht des Camps hat er nicht hinter sich gelassen. Albert wird Aladdin nicht los und verliert im Alltagsleben zunehmend die Bodenhaftung. In seiner Wahrnehmung verschwimmen Simulation und Realität. Der Besuch im Jobcenter, der Gang zur Lebensmitteltafel für Bedürftige, die Recherchen für seinen Artikel kommen ihm vor wie ein Real Life Training. Schließlich imaginiert Albert eine Flüchtlingsbiographie für Alladdin, materialisiert ihn in Berlin und übernimmt erneut seine Rolle. Aladdin bleibt und Albert geht. Er stürzt sich in ein neues Trainingprogramm, der Supervisor preist es als echte Herausforderung, als »wahre« Erfahrung im Grenzbereich.
Binde zwei Vögel zusammen, sie können nicht fliegen, obwohl sie nun vier Flügel haben.
Alberts Bericht aus dem Afghanistancamp ist eine große Metapher. Im Kern schreibt Isabelle Lehn einen Roman über das Prekariat, über die vom Leben Abgehängten. Überall gilt es Spielregeln penibel zu beachten, dem »Supervisor« zu gehorchen, keine eigene Entscheidung zu treffen. Wer den Instruktionen nicht folgt und ertappt wird, bekommt die Leistungen gekürzt. Die Figuren des Romans haben kaum Chancen, ihr Leben zu gestalten, es wird ihnen diktiert: Leben heißt Entfremdung, Verlust von Kontrolle bis hin zur Auflösung des Ichs.
Ein beachtliches Debüt
Isabelle Lehn spricht von einem »Schreiben entlang der Grenzen von Realität und Fiktion« als ihrem zentralen Verfahren. »Die geschilderten Ereignisse könnten sich auf vergleichbare Weise in der realen bzw. als real inszenierten Welt (…) abgespielt haben.« In die zunehmend in schizoiden Wahn abgleitende Icherzählung Alberts schieben sich Reportageelemente mit gut recherchierten Fakten über den Krieg und Deutschlands Beteiligung daran. Auch der simulierte Krieg ist Krieg, auch der Statist ist Akteur. Je weiter Albert vorstößt ins Niemandsland zwischen Wirklichkeit und Vorstellung, desto mehr verliert er den Überblick über die damit verbundenen politischen und gesellschaftlichen Implikationen. Selbst das Zeitgefüge zerbricht: Alberts Icherzählung wechselt zwischen Präsens und Präteritum, irrlichtert zwischen gegenwärtigem und abgeschlossenem Erleben.
Sprachlich agiert Isabell Lehn auf hohem Niveau, doch bleibt sie dabei zu ernst im Grundton, der Text wirkt merkwürdig kühl und distanziert. Zu selten blitzt die Komik auf, die der absurden Grundsituation und ihrer Zuspitzung innewohnt. »Ohne Trauma keine Prosa«, lautete die spontane Reaktion von Sandra Kegel, nachdem Isabell Lehn beim diesjährigen Bachmannpreis Teile ihres Romans vorgelesen hatte. Eine treffende Beschreibung für diesen Roman, der der Absurdität des Albertschen Identtätsverlustes und der ihm innewohnenden Komik nicht konsequent zu vertrauen scheint.
Vielleicht wurden – wie bei den beiden titelgebenden Vögeln – dem Text selbst ein Paar Flügel zuviel moniert. Die Geschichte von der Albert-Aladdin-Zwitterexistenz hebt ab, ja, sie fliegt auch passabel, aber ihr fehlen am Ende doch die wirklich beschwingten Flugmuster und -manöver, die tatsächliches Staunen auslösen. Ein typischer Schreibschulentext also? Wenn ja, dann auf alle Fälle einer der besseren Sorte. Isabelle Lehn hat mit Binde zwei Vögel zusammen ein solides und beachtliches Debüt vorgelegt, das neugierig macht auf weitere Texte der Autorin, denn schreiben kann sie.
Isabelle Lehn: Binde zwei Vögel zusammen
Gebunden 191 Seiten
Köln: Eichborn Verlag bei Bastei Lübbe 2016
Mehr Informationen zum Buch und eine Leseprobe bei Bastei Lübbe / Eichborn.
Postscriptum: Krieg, Simulation und gebrochene Psyche
Ein privatimer Exkurs als Postscriptum: Der Künstler Harun Farocki (1944-2014) hat sich in seiner großen vierteiligen Videoinstallation Ernste Spiele (2009-2010) mit dem Einsatz von Computerspieltechniken zur Ausbildung amerikanischer Soldaten beschäftigt. Simulation, Remote Control, Distanz und Ichverlust spielen dabei eine ebenso zentrale Rolle, wie die Umsetzung von Computerwelten in eine Real Life Trainings Situation. Auch Farocki hat eine miltärische Übung besucht, bei der in der Mojave-Wüste 300 Statisten irakische und afghanische Bevölkerung spielen. Diese Stadt, so Farocki, sah aus, als habe man die Wirklichkeit einer Computeranimation nachgebildet. Trainiert wird erst in der simulierten Welt der Pixel, dann in der der Statisten und Sperrholzkulissen. Besonders paradox: mit ähnlichen (Computer)Simulationen werden im Kampfeinsatz traumatisierte Soldaten therapiert. Simulation als Kampftraining und als Heilmittel. Bei der Lektüre von Binde zwei Vögel zusammen haben sich für mich viele emotionale und rationale Verknüpfungen zu Farockis Ernste Spiele ergeben.
Bildnachweis: US-Soldat in Konar, Afghanistan | Foto: US Army | CC-BY-2.0 – Quelle: Wikimedia Commons.