Lucky Newman – Carl Nixon schreibt einen Roman über das Erzählen und Erinnern
Also, diese Besprechung könnte ich ganz kurz machen. Besispielsweise so: »Kauft und lest dieses Buch, es ist umwerfend gut.« Das wäre ein kurzer Text mit einer klaren Botschaft und obendrein wäre er schnell zu lesen. Ihr würdet viel Zeit sparen. Über das Buch freilich verriete er nichts, außer, dass es mir gefallen hat. Ich sollte deshalb besser kurz sagen, worum es geht. »Eine Krankenschwester verliebt sich in einen Mann, der sich nicht erinnern kann, wer er ist.« Macht neugierig, oder?! Sagt schon mehr über das Buch, aber eigentlich immer noch nicht genug. Wie sollte also eine Besprechung von Lucky Newman anfangen, was sollte sie mitteilen, wieviel vom Buch erzählen? Was kann und will eine Rezension auf einem Blog wie diesem überhaupt? Uff, komplexe Fragen und weit und breit keine passende Antwort in Sicht.
Warum quäle ich meine Leserinnen und Leser mit solchen Spitzfindigkeiten? Nun, weil ich wirklich nicht weiß, wie ich über dieses Buch schreiben soll (oder schelmisch vorgebe, es nicht zu wissen). Strenggenommen ist das in diesem Fall überhaupt kein Problem. Denn auch Carl Nixon weiß eigentlich nicht, wie er uns die Geschichte von Lucky Newman erzählen soll (oder gibt es zumindest vor).
Wie erzählt man eine Geschichte
Es war einmal. Das hat sich bewährt. Aber ich denke, jetzt und hier wäre es nicht das Richtige.
Im Anfang war. Zweifellos der älteste und wirkmächtigste Anfang.
Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen. Nein. Viel zu abgenutzt.
So grübelt und experimentiert der unentschlossene Erzähler auf den ersten Seiten des Romans vor sich hin, um dann einfach damit anzufangen, schlicht die Zusammenhänge zu erklären. »Die Handlung spielt in einer Kleinstadt im Jahre 1919.« Nicht besonders hip, sei das, merkt der Erzähler an, aber zweckmäßig. Moment. Der Erzähler? Ist das jetzt Carl Nixon, der Autor, oder jemand anderes? Nun, der wirkliche Beginn der Geschichte liegt noch weiter zurück. Ganz am Anfang kommt ein Mann zu Carl Nixon. Er will anonym bleiben und wird deshalb einfach nur MN genannt. Er bittet den Autor Nixon, die Geschichte seiner Großmutter aufzuschreiben. Der Autor sträubt sich zunächst, fragt doch neugierig nach, fängt Feuer, ist fasziniert und beginnt tatsächlich zu erzählen. »Es war einmal…«.
Heureka. Damit sind wir vorgedrungen zum Kern dieses wundervollen Romans. Denn was vermeintlich eine herzzerreißende Geschichte (durchaus mit gefährlich hohem Kitschpotential) sein könnte, entpuppt sich als eine elegante, tiefsinnige Spielerei über das Erzählen, genauer über das Erzählen und das Erinnern. Das Spiel beginnt mit der geschickten Herausgeberfiktion im Stile vieler Romane (insbesondere des 18. Jahrhunderts), von der konsequent bis zum Schluss nicht eindeutig klar wird, ob sie nun Fiktion ist oder nicht, also ob MN und seine Großmutter real sind. Das setzt sich fort über erzähltheoretische Zwischenbermerkungen und Einschübe, mit denen im erzählten Text (oft nonchalant und augenzwinkernd) über die richtigen Kniffe des Erzählens und Weitererzählens reflektiert wird, und gipfelt schließlich in einer märchenhaften Geschichte, die in der Geschichte erzählt wird. (Und in der Geschichte in der Geschichte findet sich zu allem Überfluss noch eine Geschichte.) Erinnern durch Erzählen, Erzählen als Erinnern, sich im Erinnern erzählen, im Erzählen sich erinnern… Carl Nixon zieht hier alle Register und fordert seine Leser auf, tatkräftig mitzuspielen.
Was erzählt uns Lucky Newman
Halt! Alles noch einmal auf Anfang. Was passiert, wenn sich eine Frau in einen Mann verliebt, der sich nicht daran erinnert, wer er ist? Die Handlung des Romans Lucky Newman spielt kurz nach dem Ersten Weltkrieg in einer kleinen Stadt Down Under. Die Krankenschwester Elizabeth wartet auf die Kriegsheimkehr ihres als vermißt gemeldeten Mannes und ihr vierjähriger Sohn Jack wartet mit ihr auf seinen Vater. Als Elizabeth ihre Stelle im Krankenhaus aufgibt, um die Privatpflege von Paul Blackwell zu übernehmen, ändert sich alles. Paul ist, anders als Elizabeth’ Mann, aus dem Krieg heimgekehrt, doch ohne Gedächtnis. Paul Blackwell ist ausgelöscht, der Mann in Pauls Körper nennt sich jetzt Lucky. Anders als Pauls Ehefrau Margaret akzeptiert Elizabeth das und als es darum geht, Lucky geisteskrank zu erklären und in ein Sanatorium zu stecken, kämpft sie tapfer um das Recht des Mannes, einfach nicht zu wissen, wer er früher war und nun und künftig einfach Lucky zu sein.
Die Geschichte hat natürlich ein Happy End. Natürlich? — Nochmal ansetzen. — Die Geschichte endet glücklich, weil der Erzähler sie glücklich enden lassen möchte, oder nicht anders kann, als sie glücklich enden zu lassen. Da sind wir wieder zum Ausgangsüunkt zurückgekehrt; beim Spiel mit dem Erzählen und dem erzählerischen Spielen. (Genaugenommen gibt es mehrere mögliche Happy Endings, von denen aber nur eins stehen bleibt, nachdem die Anderen alternativ durchprobiert wurden…)
Lucky Newman ist luftig leicht geschrieben, alles wird beinahe beiläufig aber herzlich vorgetragen, ganz warm, wie eine Geschichte zur Guten Nacht über mehrere Abende verteilt. Carl Nixon erzählt uns Lesern die Geschichte von Lucky und Elizabeth, wie Elizabeth ihrem Sohn Jack in der Geschichte die Geschichte vom Ballonfahrer erzählt, der dem Tiger hilft, sein Tigerweibchen und den kleinen Tiger jr. vor den bösen Tierfängern zu retten. Und beiden, Ballonfahrer und Tiger, hilft wiederum die geheimnisvolle Mondjungfrau.
Märchenhaft? Herzergreifend? Kitschig gar? Nein, nein, nein. Traumwandlerisch sicher hält Nixon die Balance und streut die Härten des Lebens in sein kleines Märchen. Der Verlust des Vaters, die Grausamkeit des Krieges, die Einsamkeit des Wartens, im eigenen Körper verloren zu sein, das wird ebenso thematisiert wie das Glück, das im Leben immer irgendwo auf uns wartet und gefunden werden möchte. Viel Lebensweisheit und -wahrheit hat Nixon in Lucky Newman versteckt, aber genausoviel Schmerz und Trauer. Was zunächst nur eine bewegende Geschichte von einer Krankenschwester und einem Mann ohne Erinnerung ist, wird so zu einem großen Roman über das Leben, die Liebe und das Glück. Völlig kitschfrei, grundehrlich und ganz groß und ganz ohne Ende.
Genug.
Jedes Ende ist willkürlich. Wie um alles in der Welt soll man auch wissen, wann eine Geschichte wirklich zu Ende ist?Ende
Innen und Aussen – Ein schönes Buch
Carl Nixon ist Neuseeländer und Lucky Newman sein dritter Roman. Aus dem Englischen übersetzt hat ihn, wie zuvor Rocking Horse Road und Settlers Creek, Stefan Weidle; die Geschichte vom Ballonfahrer übersetzte Ruth Keen. Die Übertragung ist stimmig und glaubwürdig, findet die richtigen Worte und den richtigen Erzählfluss, den die Geschichte von Lucky und Elizabeth in ihrem Schwebzustand zwischen Märchen und realistischer Schilderung verlangt. Und weil Stefan Weidle nicht nur Übersetzer ist, sondern auch Verleger, ein Verleger von altem Schrot und Korn im besten Sinne (sic!), verpasst er dem Roman (wie allen Büchern des Weidle Verlages, das muss mal gesagt werden) eine handwerkliche Hülle vom Feinsten. Fadenheftung natürlich, augenfreundlich gefärbtes und griffiges Papier, ein Satzspiegel und eine Typographie, die das Lesen zum Vergnügen werden lassen (von Friedrich Forssman) und ein Einband, der das farbige Bild (von Levke Leiß) auf dem Schutzumschlag monochrom wieder aufnimmt. Wer das Buch einmal in die Hand genommen hat, möchte es nicht mehr fortlegen. Buchliebhabers Herz schlägt anhaltend höher.
Aus dem Englischen von Stefan Weidle und Ruth Keen
Gebunden, fadengeheftet, 280 Seiten
Bonn: Weidle Verlag 2015
Auch die Klappentexterin zeigte sich begeistert von Lucky Newman.
Eine nicht weniger begeisterte Besprechung zu Settlers Creek findet sich beim Kaffehaussitzer.