Es braucht keine große Geste um zu verschwinden – Geschichten von Ulrike Almut Sandig
Ulrike Almut Sandig erzählt vom Verschwinden. Vieles kann verschwinden. Menschen, Freundschaften, Erinnerungen, Pflanzen, Tiere, ganze Kontinente. Aber das ist nicht tragisch. Denn nichts verschwindet wirklich ganz, solange davon erzählt und solange davon gelesen wird. Wo etwas verschwindet, bleibt kein Vakuum, sondern Neues rückt nach, drängt in die Leerstellen und nimmt gleichsam letzte verbliebene Spurenelemente des Verschwundenen in sich auf. Somit ist Verschwinden auch (und nur?) Bewegung und Veränderung. Denn nichts verschwindet restlos, alles Verschwinden hinterläßt Spuren. Von diesem Widerspruch erzählt Ulrike Almut Sandig im Buch gegen das Verschwinden.
Ein Trailer zum Buch
Aber ob eine Geschichte ein gutes Ende nimmt oder nicht, hängt doch davon ab, an welchem Punkt wir aufhören sie zu erzählen! Verschwindet der Tabak in Deiner Dose, nur weil du das Rauchen aufgegeben hast und die Dose nicht mehr aufmachst? Verschwinden die Freunde, nur weil sie in der Vergangenheit liegen?
Ein fröhlicher Wohnmobilurlaub an der Ostsee wird überschattet von vergrabenen Konflikten und aufgestautem Zwist. Am Ende kommt einem Paar ein langjähriger Freund abhanden. – Ein plötzlicher Schneesturm verwandelt eine winterliche Bergwanderung in den Schweizer Alpen in ein Drama. Ein Wanderer bleibt verschollen, trotz aller Bemühungen der Bergwacht – Ein Mann bereitet die Geburtstagsfeier für seine Frau vor. Doch die ist schon lange tot und auch der Rest der Lebensordnung des älteren Herren droht sich aufzulösen. – Eine Frau reist im Jahre 2117 mit ihrer Enkelin in ein Land, das einst Neuseeland war; dort beobachtet sie den nächsten Venusdurchgang, sucht verschwundene Pflanzen und die Spuren ihrer eigenen Großmutter. – Inmitten der Ghezi-Park-Unruhen versucht ein junger Mensch in Istanbul die Erwartungen seiner Mutter abzuschütteln, verliert dabei die Erinnerungen an ihr Gesicht und auch die Fundamente seiner Identität. – Die Trennung von Frau und Kind und eine Krankheit, die seine Bewegungsfähigkeit zunehmend einschränkt, machen einem Mann zu schaffen. Er wartet sehnsüchtig auf das Geburtstagsgeschenk seines Bruders, der unter wechselnden Namen als Journalist in der Weltgeschichte herumreist.

Der Zauber des Erzählens gegen das Verschwinden
Es sei gewarnt; jeder Versuch kurzer Inhaltsangaben ist irreführend, denn Ulrike Almut Sandig serviert dem Leser unter dem vermeintlich einfachen Gattungsbegriff »Geschichten« hochkomplexe Prosastücke. Dabei wirken ihre Texte auf den ersten Blick beinahe mühelos und unangestrengt, wie vom Himmel gefallen und am Küchentisch mit feiner Melancholie leicht dahererzählt. Doch in Wirklichkeit sind die sechs Geschichten im Buch gegen das Verschwinden alles andere als leicht zu konsumieren. Sie erfordern große Konzentration und Aufmerksamkeit. Denn unter der eleganten Oberfläche brodelt es. Sandig springt mitten hinein ins Leben ihrer Figuren. Der Leser begegnet Menschen mit Geheimnissen, Ängsten und Hoffnungen. Einige Figuren bleiben namenlos und selbst die mit Namen sind doch mehr oder weniger anonym. Es sind Menschen, die man meint zu kennen und doch nicht kennt. Aber wir dürfen ihnen nahe kommen, im Vorbeihuschen in ihr Innerstes schauen, kurz nur, für einen Augenblick. Deshalb bleibt vieles auch rätselhaft brüchig.
Alle Geschichten haben weder Anfang noch Ende im strengen Sinn. Exposition, Durchführung, Höhepunkt, Schluss, diese tradierten Elemente interessieren Ulrike Almut Sandig nicht, bewußt verzichtet sie auch auf rationale Erklärungen und versteckt kausale Zusammenhänge in beiläufige Nebensätze. Das Gefühl des Verlustes und das Verschwinden in all seinen Ausprägungen heben die Figuren in einen traumatischen Schwebezustand. Im Erzählen und im Erzählten verwischen die Trennlinien zwischen Erinnerung und Wunsch. Das Verschwinden konstruiert seine eigenen Realitäten. Für diese zutiefst irrationalen und verstörenden Momente findet Sandig paradoxerweise eine klare und beinahe spielerisch leichte, rhythmisch schwingende und poetische Sprache. Sie führt so den Lesern in ihren Geschichten den großen Widerspruch des Verschwindens plastisch vor Augen, jene gegenläufige Bewegungen des sich Entfernens und des Näherrückens. Im Verschwinden gehen Trauer und Zuversicht, Wunsch und Wirklichkeit Hand in Hand. Am Ende steht ein Trost: Nichts verschwindet restlos im Leben, schon gar nicht, wenn dem Verschwinden der Zauber des Erzählens entgegengesetzt wird.

Geschichten
Gebunden, 208 Seiten
Frankfurt/M.: Schöffling & Co. 2015
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages