Der Fluch des Grindwals – Vater und Sohn unterwegs
Ein Roman, so karg und einfach wie der Schauplatz seiner Handlung. Die Natur auf den Färöerinseln, jener sturmumtosten Inselgruppe im Atlantik, ist schroff, rau und unwirtlich, und das Leben dort ist hart, sehr hart und entbehrungsreich. Davon erzählt Heđin Brú in Vater und Sohn unterwegs und von Zeiten des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs. Alte Traditionen verlieren an Wert, der Glaube bietet keinen Halt mehr und Geld bestimmt zunehmend das Denken und Handeln.
Mit einer traditionellen Grindwaljagd setzt der Roman ein. Auch der 70-jährige Ketil und sein jüngster Sohn Kálvur nehmen daran teil. Sie sind zu Fuß zum Fjord gewandert, nicht im Auto gefahren, sie setzen sich bei der Treibjagd in ein Ruderboot und nicht in einen der modernen Motorboote. Ketil hängt an der alten Zeit, das was sich in den 1930er Jahren um ihn herum auf den Inseln und in den Fischerdorfern verändert, all diese neuen Errungenschaften der Technik und des Fortschritts verunsichern ihn. Doch im Überschwang des Walfischens kann er seine Sorgen und Bedenken über Bord werfen, für einen Augenblick die Not vergessen. Bei der Jagd ist alles wie früher.
Am Tag darauf liegen große Haufen von Grindwalfleisch vor jeder Tür in Seyrvágur, man salzte es ein und hängte es zum Trocknen auf, stimmte dabei alte Heldenballaden an und alle Gesichter strahlten bei der Arbeit. Es qualmte aus jedem Haus von großen Kochfeuern und bettlägrige Greise krochen vors Haus hinaus, wie immer, wenn große Jagdbeute ins Dorf gebracht wird.
Aufgereizt von der erfolgreichen Waljagd und berauscht von einer gehörigen Portion Alkohol ersteigert Ketil bei der anschließenden Auktion einen viel zu großen Anteil an der Beute. Begleichen muss er die Schuld erst am kommenden Neujahrstag, es bleiben also rund sechs Monate Zeit, das nötige Geld aufzutreiben. Aber wie?
Es war diese Grindwalrechnung, die ihnen im Kopf herumspukte. Die Frau war am schlimmsten. Sie warf Vater und Sohn vor, dass sie das Haus ins Verderben gestürzt hätten, weil sie die Grindwalrechnung nicht bezahlen konnten; sie waren in Schulden geraten, die größte Schande, die ihnen zustoßen konnte, war, verachtenswerte Schuldengauner zu sein. Und sie heulte Rotz und Wasser.
Von seinen älteren Söhnen darf Ketil kaum Hilfe erwarten. Sie haben das Elternhaus längst verlassen, haben die ärmliche Hütte mit dem Grasdach gegen ein großes Steinhaus eingetauscht, sind verheiratet mit Frauen, die ihrer Schwiegermutter hochnäsig die Armut vorwerfen und ihr stures Beharren auf Tradition, betrachten Schulden als Segen, leben lieber gut auf Kredit als ehrenhaft in Armut. Die Geldsorgen seiner Eltern kann Ketils ältester Sohn nur belächeln.
Keine Ahnung, ob ihr dumm seid oder nicht, aber ihr seid alt. Es ist soviel passiert seit ihr jung wart, dass ihr euch nicht mehr auskennt und nun lauft ihr verbittert herum und prophezeit Not und Untergang. Hört auf damit, nichts ist aus den Fugen geraten, es ist lediglich Gezeitenwende. Eure Flut ist abgeebbt, jetzt kommt die unsrige.
Schmerzlich stellt Ketil fest, dass die nachkommende Generation auf die Kenntnisse und die Lebenserfahrung der Alten nicht mehr angewiesen ist. Sie setzen auf moderne Technik und Arbeitsweisen, verlassen die Insel, arbeiten auf großen Frachtern und Fischtrawlern oder suchen ihr Glück in Dänemark. So müssen der alte Fischer, seine Frau und ihr etwas einfältiger und ängstlicher Jüngster das Geld selbst beschaffen. Wolle spinnen, Pullover stricken, Seelachse und Vögel fangen, Treibholz suchen; alles ist recht für ein paar Kronen. Von morgens bis abends sind Vater und Sohn unterwegs, der Alte stapft verbissen und knorrig vorneweg, im Glauben, es doch irgendwie zu schaffen, der Junge trottet etwas linkisch und halbherzig hinterher und beginnt sich zu allem Überfluß mehr und mehr für die jungen Frauen zu interessieren. Bei ihren vielfältigen Unternehmungen treffen sie auf verständige Mitstreiter, kleine Tagediebe und Betrüger, hochmütige Fischer und großkotzige Pfarrherrn und Bezirksbeamte. Doch der Fluch des Wals will partout nicht weichen. Die Vergeblichkeit ihres Tuns manifestiert sich schließlich als schwerer Sturm, der zu allem Überfluss auch noch das Haus abdeckt. Beim Versuch, neues Heu zum Abdichten zu besorgen, stirbt Ketils Freund Lias Berint. Auch er ist einer dieser alten Männer, die von der neuen Zeit, vom Generationswechsel und vom Konflikt zwischen Tradition und Moderne entwurzelt sind. Doch Ketil läßt sich nicht beirren. Unerschütterlich nimmt er auch diesen Schicksalsschlag entgegen. »Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.« Der Glaube, Demut und der eigenen Hände Arbeit sind die einzigen Mittel, die zur Rettung taugen. Davon rückt Ketil nicht ab, bis zuletzt.
Früher war man dankbar, wenn ein armer Mann etwas zu essen hatte und ein DAch über dem Kopf. Heute muss alles immer so großartig sein. (…) Wer arm ist, der ist arm. Gott ist es, der verteilt, den können wir nicht aus der Rechnung nehmen.
Archaisch und packend
Heđin Brú verpackt diesen verzweifelten Existenzkampf in eine Hülle, die auf jegliche Schnörkel und Verzierungen verzichtet. Der Erzählton ist klar und einfach. Flink und unverhofft wechseln Tragik und Ernst mit Komik und skurrilen, beinahe slapstikartigen Situationen. Die Szenerie wird mit knappen Worten umrissen, die Natur ohne überbordende Metaphern beschrieben. Die Härte des Lebens erfordert harte Worte. Der Erzählfluss von Vater und Sohn unterwegs ist treibend, der Text läßt Wärme, Geborgenheit und Innehalten nur zu, wenn, selten genug, vereinzelt glückliche Momente und Erinnerungen aufscheinen. Brú ist der traditionellen Form der mündlichen Erzählungen auf den Färöern verpflichtet, den alten Sagen, Heldenliedern und den Gesängen der Rundtänze mit ihren Wiederholungen und Variationen. Vater und Sohn unterwegs berichtet von aktuellen Generations- und Gesellschaftskonflikten und bedient sich dabei fast archaischer Mittel. Der Roman kommt daher wie ein Kleinod aus vergangenen Zeiten, unansehnlich zunächst, doch dann voller Wucht und Zauber.
Eine Säule der Färöischen Sprache und Kultur
Beide, Brús Roman und die hier vorliegende Neuübersetzung von Reinhard Kölbl, sind in mehrfacher Hinsicht bedeutend. Vater und Sohn unterwegs ist, 1940 mit dem Titel Feđgar á Ferđ erschienen, einer der ersten Romane überhaupt, die auf Färöisch geschrieben wurden. Schriftliche literarische Zeugnisse von den Inseln liegen bis dahin, von wenigen Ausnahmen wie einer Balladensammlung abgesehen, nur auf Dänisch vor. Brú und mit ihm weitere Schriftsteller verfolgen mit der Rückbesinnung auf die eigene Sprache, die kleinste aus der germanischen Sprachenfamilie, mehrere Ziele. Zum einen soll die eigene Tradition gestärkt und zum anderen der vorherrschende Einfluß Dänemarks zurückgedrängt werden. Bis heute gehören die Färöern politisch zu Dänemark, sind aber weitgehend autark. Dass die Färinger heute selbstbewußt und stolz auftreten, dass ihre Muttersprache seit 1954 auch offiziell Amts- und Kultursprache ist, verdanken sie nicht zuletzt Literaten wie Brú. Heute erscheinen auf den Färöern jährlich mehr Bücher pro Kopf als in jedem anderen Land der Erde. Aber neben den Neuerscheinungen und aktuellen Romanen ist Vater und Sohn unterwegs bis heute eines der meistgelesenen Bücher auf den Schafsinseln. Reinhard Kölbl hat die wundervolle Geschichte von Ketil und seinem Überlebenskampf hier erstmals direkt aus dem Färöischen ins Deutsche übertragen. Eine frühere deutsche Ausgabe von Alfred Andernau, 1966 unter dem Titel Des armen Mannes Ehre erschienen, griff nur auf die dänische Übersetzung des färöischen Originals zurück.
Viel genauer erläutert diesen komplexen und vielschichtigen kulturhistorischen Hintergrund Klaus Böldl in seinem informativen Nachwort. Ich empfehle, es zweimal zu lesen: einmal vor der Lektüre des Romans und gleich danach noch einmal. Sehr hilfreich ist auch das Glossar, das Übersetzer Richard Kölbl zusammengestellt hat. Es erklärt nicht nur unverständliche Begriffe und gibt Hilfe bei der Aussprache färöischer Wörter und Namen, sondern vertieft auch landestypische Bräuche und damit verbundener Denkweisen.
Die liebevolle Gestaltung des kleinen Bändchens aus dem Berliner Guggolz Verlag rundet Vater und Sohn unterwegs zu einem perfekten Lesevergnügen ab. Nachdem ich den Roman (nach zweimaligen Lesen) zugeklappt habe, verspürte ich eine unbändige Lust, augenblicklich zu einer Reise auf die Färöern aufzubrechen, um selbst an den stürmigen Küsten zu stehen und nachzuempfinden, was Ketil, seine Frau und ihren jüngsten Sohn Kálvur vor 80 Jahren auf den kargen und schroffen, aber auch schönen Inseln bewegt haben mag. Nicht das schlechteste, was man von einem Buch erwarten kann, oder?!
Aus dem Färöischen und mit einem Glossar von Richard Kölbl
Mit einem Nachwort von Klaus Böldl
Gebunden, 205 Seiten
Berlin: Guggolz Verlag 2015