Melancholischer Sommer in Yorkshire – »Ein Monat auf dem Land« von J. L. Carr
Die schlanke Novelle Ein Monat auf dem Land ist einer jener Texte, die beim Lesen, auch beim wiederholten, mit schwebender Leichtigkeit bezaubern und doch genügend Gewicht besitzen, um lange zu bleiben. Carr erzählt die empfindsame Geschichte einer zarten Liebe und einer schmerzhaften Selbstfindung. Dabei verzichtet er auf jede Sentimentalität. Ein Buch, das Menschen tröstet und glücklich machen kann, weil es zeigt wie Rettung in uns und in anderen liegt.
Tom Birkin, der Erzähler, kommt 1920 in das beschauliche Dorf Oxgodby. Hier in der Grafschaft Yorkshire soll er ein Wandgemälde in einer Kirche reustaurieren. Die kürzlich verstorbene Landadelige Miss Hebron hat es in ihren Testament so verfügt. Das Gemälde liegt kaum sichtbar unter einer fetten Schicht aus Tünche, Kalkfarbe, Schmutz und Ofenruß. Tom kommt nach Oxgodby mit traumatischen Erinnerungen an die Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges. Seine Seele ist, genauso wie das Wandgemälde, vernachlässigt, begraben, verletzt und verbrannt. Der Einsatz von Giftgas hinterließ bei ihm ein nervöses Gesichtszucken. Dass seine Frau ihn nicht versteht und beschimpft, ihn mit einem anderen Mann betrügt und in London zurückbleibt, erschwert Tom die Reise aufs Land zusätzlich.
Während er akribisch Schmutz und Farbe von Jahrhunderten herunterkratzt, öffnet er sich mehr und mehr. Zunächst ist es ein neugieriges und schwatzhaft-altkluges Mädchen, das seine Freundschaft gewinnt, dann der merkwürdige Moon, der auf dem Kirchhof kampiert und vorgeblich nach einem verschollenen Grab sucht. Auch dieser Auftrag ist testamentarisch verfügt von Miss Hebron und auch Moon ist Kriegsveteran. Während der eine Schicht für Schicht ein mittelalterliches Fresko freilegt und dabei versucht, die schrecklichen Bilder in seinem Inneren zu übertünchen, gräbt der andere Löcher in die Felder rings um den Friedhof, um die Gräben in seinem Herzen zuzuschütten.
Mit disziplinierter Berufsauffassung arbeitet sich Tom voran, bringt die lebendigen Farben und die lebhaften Figuren in der Szene des Jüngsten Gerichtes an der Wand zum Vorschein. Je mehr er freilegt, desto mehr öffnet er sich selbst. Er nimmt zunehmend Teil am ländlichen Alltag. Die Menschen von Oxgodby ziehen ihn in hinein in den Rhythmus eines satten, ertragreichen Sommers mit Ernteeinsätze, Kutschfahrten, Picknicks mit Mohnkuchen und Ausflügen in die nahegelegene Kreisstadt. Bei alledem verliebt sich Tom stillschweigend in Alice Keach, die junge und hübsche Frau des mürrischen, alten Vikars.
Das Religiöse und seine unterschiedlichen Andachtsformen prägen das Leben in Oxgodby und durchziehen die Geschichte. Tom Birkin legt ein biblisches Gemälde in einer Anglikanischen Kirche frei, andererseits besucht er mit der Familie des kleinen Mädchens, das ihn ständig bei seiner Arbeit begleitet, die Gottesdienste einer nonkonformistischen Gemeinde. Glocken läuten, Choräle erklingen und Orgeln tönen. Aber Tom ist ein Ungläubiger, und seine Geschichte, die sich feinfühlig entrollt, wird von einem tiefem Humanismus getragen, in dem Vergnügen irdisch und flüchtig ist. Alles ist von besonderem Wert, weil es endlich ist.
Dank seiner eleganten und leichtfüßigen Art zu erzählen, überfrachtet J. L. Carr die Geschichte zu keiner Zeit. Nichts wird überbetont, nichts überzogen. Carr zeichnet scharf konturierte, fein beobachtete Szenen. Seine große Kunst besteht darin, in kleinen, beinahe altmodisch anmutenden Miniaturen das Seelenleben seiner Figuren mit der Natur des warmen Sommers in der englischen Provinz verschmelzen zu lassen. Man spürt förmlich den lauen Wind, riecht den Duft von Heu und Blumen, erahnt das Flirren der Luft.
Nach einem Monat ist das Gemälde freigelegt, obendrein das Geheimnis seines Schöpfers, des unbekannten Malers aus dem 17. Jahrhundert gelüftet. Tom Birkin verlässt Oxgodby ohne Alice Keach seine Liebe offen zu gestehen. Er schlägt wohlwissend eine Chance aus und geht zurück nach London zu seiner Frau. Das Finale der Novelle bildet ein schmerzliches Gegengewicht zur Idylle, die Toms Seele gehoben und geheilt hat. Es bleibt die Erkenntnis: das Glück ist flüchtig und allenfalls in der Erinnerung lebt es weiter. Darin steht es dem Schmerz in nichts nach.
Die Art, wie die Dinge aussahen, allein diese Kirche inmitten der Felder und Wiesen, das Bett auf dem Dachboden unter dem Glockenstuhl, eine Stimme in unserer Erinnerung, die Berührung durch eine Hand, ein geliebtes Gesicht. Sie sind für immer verloren, und man kann nur warten, bis der Schmerz über den verlust nachlässt.
J. L. Carr, geboren 1912 in der Grafschaft Yorkshire und 1994 an Leukämie verstorben, hat Ein Monat auf dem Land 1980 geschrieben. Es war sein erfolgreichstes und bekanntestes Buch, wurde für den Booker Prize nominiert und später verfilmt. Schön, dass dieses kleine, merkwürdig aus der Zeit gefallene Buch, dass dieser moderne englische Klassiker in der eleganten Übersetzung von Monika Köpfer endlich auch deutschsprachige Leser erfreuen kann.
Aus dem Englischen von Monika Köpfer
Gebunden, 144 Seiten
Köln: Dumont Buchverlag 2016
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
Bildnachweis: Countryside (United Kingdom) | Foto von George Hiles | via unsplash.com || Restauration von Fresken | Foto von Sailko [CC BY-SA 3.0] | via Wikimedia Commons