Helden auf dem Fußballacker – »Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten« von J. L. Carr
Wer den Landespokal gewinnt ist ein Fußballheld. In England, dem Mutterland des Fußball, wie es so schön heißt, gilt als höchstes anzustrebendes Ziel, am Ende der Saison den FA Cup in den Himmel recken zu dürfen. Das ist der Traum eines jeden kickenden Jungen oder Mannes. Und nicht nur in England. Der Pokal hat seine eigenen Gesetze, hier haben Außenseiter die Chance, die etablierten Mannschaften vom Platz zu fegen und Geschichte zu schreiben. Auch wenn der Fußball international längst zum millionenschweren Geschäft geworden ist, in dem Vereine wie globale Wirtschaftsunternehmen agieren, ihren Angestellten für das Rennen und Balltreten auf dem Rasen unverschämt hohe Gehälter zahlen und den Fans, ohne dass die je murren und mucken, das Geld aus der Tasche ziehen, bleibt doch immer dieser Traum vom einzigartigen Kameradschaftsgefühl, dem Gemeinschaftserlebnis, dem einenden Spirit von »La Mannschaft«.
Diesem Traum hat J. L. Carr (1912 –1994) mit seinem herzlich-herzigen Roman Wie die Steeple Sunderby Wanderers den Pokal holten (1975) ein Denkmal gesetzt. Carr ist in Großbritannien ein bekannter Schriftsteller, in Deutschland sagte sein Name bis vor kurzem nur Kennern etwas. Sein größter Erfolg war Ein Monat auf dem Land (1980), den Dumont in der Übersetzung von Monika Köpfer vor gut einem Jahr (endlich) auch bei uns bekannt gemacht hat. Verständlich, dass der Verlag diesem Erfolg bei Publikum und Kritik (hier meine Besprechung) etwas nachschieben wollte und musste. Fußball geht in Deutschland immer, hat man sich in Köln wohl gedacht, et voilá.

Wie die Steeple Sunderby Wanderers den Pokal holten erzählt genau das, was der Titel verspricht. Die Einwohner von Steeple Sinderby, einem 547-Seelen-Dorf in Yorkshire, sind vom gleichen Schlag wie die unbeugsamen Gallier bei Asterix. Die Menschen der nordenglischen Hochmoore zeichen sich vor allem durch Sturheit und Unerschütterlichkeit aus. Müssen sie auch, denn Yorkshire wird vom Rest Englands gerne belächelt. Erzähler der Geschichte ist Mr. Gidner, der seine Brötchen mit dem Verfassen von Postkartensprüchen verdient. »Schreiben ist schreiben«, sagt Mr. Fangloss, der als Clubpräsident, Großgrundbesitzer und führendes Mitglied aller Vereinigungen und Gesellschaften des Ortes wie ein Hochmoor-Bonaparte alle Geschicke lenkt. So breitet also Mr. Gidner vor dem Leser seine Rohfassung der offiziellen Chronik zum großen Poaklsieg aus.
Natürlich ist die Erfolgsstory vom Pokalsieg des Kleinstverein ein Märchen und höchst unglaubwürdig. Aber darauf kommt es gar nicht an. Es geht um den Geist, der das Dorf und seine Mannschaft antreibt. Ein um seine verstorbene Frau trauernder Trainer findet seine Berufung und neue Kraft, der Pfarrer wird zum Flankengott, ein aus Ungarn geflohener Philosoph und Mathematiker entpuppt sich als unverzichtbarer Mental- und Strategiecoach. Alltägliche Lebensweisheit, dörflicher Pragmatismus und unerschütterlicher Glaube an das Gute im Menschen und damit an das gute Ende von Allem werden in den Fußball getragen. Das ist mitunter sehr komisch, wenn etwa der Mittelstürmer, ein Ex-Profi mit Torabschlusshemmung, ausgerechnet mithilfe einer pietistisch-spirituellen und ein wenig verrückten Freundin wieder zum Tormonster wird und nebenbei seinen Seelenfrieden findet.

Es ist, um es auf den Punkt zu bringen, ein gutes Buch über Fußball. Gut deshalb, weil es um weit mehr geht als Fußball. J. L. Carr spickt den Marsch der Steeple Sinderby Wanderers durch alle Runden des FA Cups mit Seitenhieben auf überhebliche Sportreporter, ironischen Ausführungen über die Eigenheiten nordenglischer Dorfgemeinschaften und einer Anleitung zur richtigen Gestaltung eines hängenden, einseitig matschigen Fußballplatzes, den lediglich die Heimmannschaft siegreich verlassen kann. Mit Witz oder Sturheit, je nachdem, meistern die Menschen von Steeple Sinderby auch die größten Herausforderungen. Und wenn es gar zu dick kommt, muss notfalls eben die Schrotflinte eingesetzt werden, aus Versehen zwar, aber sie verfehlt ihre Wirkung nicht. Am steht, das ist angesichts des Romantitels kein Spoiler, der Gewinn des Cups. Im Wembley Stadion besiegen die Wanderers die Glasgow Rangers. Ein landesweite Sensation, aber letztlich für das kleine Dorf nur eine (wohlverdiente) Nebensache.
Hinten raus, nachdem die große Jubelfeier abgeklungen ist, hält der Erzähler noch einige feinsinnige Bemerkungen und Beobachtungen zur Vergänglichkeit des Ruhmes und die wahren Werte des Lebens bereit. »Es ist vorbei und wird niemals wiederkehren«, resümiert Mr. Fangfoss und verrät sich nach kurzem Innehalten, »und das ist jammerschade.« Warmherzig wird das alles bis zum Ende vorgetragen, nicht mit belehrendem Zeigefinger. In Steeple Sinderby und dem Leben seiner Dorfbewohner ist Großes geschehen, aber umgeschmissen hat es sie nicht, auch nicht umgekrempelt, allenfalls wurde hier und da ein Stups in eine andere, eine erfreulichere Richtung verteilt. Am Ende sind alle Seelen kuriert, irgendwie.
Der große Wurf ist Wie die Steeple Sunderby Wanderers den Pokal holten somit nicht. Bei weitem hat dieser Roman nicht die Wucht und den Zauber von Ein Monat auf dem Land, weder inhaltlich, noch sprachlich. An Letzterem trägt sicherlich nicht Monika Köpfer Schuld, die auch diesmal im treffenden, den britischen Humor adäquat transportierenden Ton übersetzt hat. Aber als unterhaltsame Sommerlektüre mit Pontential zu erbaulichen Denkanstößen taugt das Büchlein allemal.

Aus dem Englischen von Monika Köpfer
Gebunden, 192 Seiten
Köln: Dumont Buchverlage 2017
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
Zu den Fotos: Unglaublich aber wahr, im Stadion von Orissaare auf der estnischen Insel Saaremaa steht mitten auf dem Spielfeld eine mächtige Eiche. Ich habe sie selbst gesehen und fotografiert. Der Bolzplatz mit dem erhöhten und aspahltierten Eckpunkt (warum muss die Straße hier auch einen Bogen machen!) findet sich auf der griechischen Insel Corfu.