»Franz Kafka. Der ganze Prozess« – Das vollständige Manuskript liegt im Martin-Gropius-Bau aus
»Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.«
Mit diesem Eingangssatz, wohl einem der markantesten der deutschen Literaturgeschichte, beginnt Franz Kafkas Der Prozess. Leserinnen und Leser haben im Martin-Gropius-Bau in Berlin derzeit die seltene Gelegenheit, das vollständige Originalmanuskript zu sehen und zu lesen. Die Präsentation Franz Kafka. Der ganze Prozess erfolgt in enger Kooperation dem Deutschen Literaturarchiv Marbach, zu dessen Sammlung das bedeutende Manuskript seit 1988 gehört.
Der Ort der Ausstellung ist gut gewählt. In Sichtweite des Martin-Gropius-Baus steht in der heutigen Stresemannstraße 111, ehemals Königgrätzer Straße, ein architektonisch eher misslungenes Bürohaus. Unter dieser Adresse firmierte damals das Hotel Askanischer Hof. Im Juli 194 kommt es dort zu einem schicksalhaften Treffen. Begleitet von ihrer Schwester Erna und ihrer Freundin Grete Bloch löst Felice Bauer ihre Verlobung mit Franz Kafka.
Kafka erinnert sich später daran als einen »Gerichtshof im Hotel«, bei dem ihm drei Frauen als Richterin gegenübersitzen. So entsprang möglicherweise der erste Funke zum Prozess. Kafka selbst fuhr nach der Verlobung mit einem Freund an die Ostsee in den Urlaub. Kurz darauf, im August 1914, der Erste Weltkrieg war bereits ausgebrochen, beginnt er die Arbeit am neuen Roman. In sein Tagebuch notiert er:
Gar nicht geschlafen. Nachmittag drei Stunden schlaflos und dumpf auf dem Kanapee gelegen, in der Nacht ähnlich. Es darf mich aber nicht hindern.
Sechs Monate lang arbeitet er wie besessen, von heftigen Zweifeln und Versagensängsten begleitet, am Roman. Im Januar bricht er das Manuskript schließlich ab, übergibt es seinem Freund Max Brod und fordert ihn auf, das Papierbündel ungelesen zu verbrennen. Heute gilt Der Prozess als Hauptwerk von Franz Kafka.
Die Ausstellung zeigt die erhaltenen 171 Blätter des Manuskripts zeigt die Ausstellung in der Reihenfolge, in der sie Max Brod als Herausgeber für die posthume Ausgabe 1925 im Verlag Die Schmiede angeordnet hat. Sie widersprechen der Vorstellung, ein Roman entstehe linear und werde von Anfang bis Ende erzählt. Kafka schrieb zunächst in Quartheften, später löste er diese Heft auf, ordnete die Blätter zu 16 Konvoluten, die er in Deckblätter einschlug (gefaltete bzw. halbierte Seiten aus einem Typoskript von Der Heizer, dem 1913 veröffentlichten Kapitel seines ebenfalls unvollendet gebliebenen Amerika-Romans Der Verschollene).
Kafkas Plan, aus Angst kein Ende zu finden, parallel zum Eröffnungskapitel gleich den Schluss des Romans zu konzipieren und niederzuschreiben, blieb erfolglos. verlief er sich dennoch im Text. Das Manuskript ist wie ein Spiegel der Arbeitsphasen, es zeigt genau, wann die Handschrift locker über die Seiten fließt, wann sie zu stocken beginnt und Kafka in zahllosen Korrekturen und Streichungen beginnt, unsicher zu werden. Kafka arbeitet stets an mehreren Kapiteln gleichzeitig, zusehend verläuft er sich im Text, verliert die Fäden aus der Hand und bricht dann im Januar 1915 die Arbeit entmutigt ab. Anfang Februar notiert er in seinem Tagebuch:
Vollständige Stockung. Endlose Quälereien.
Kafkas Handschrift ist nach kurzer Eingewöhnung auch für den im Umgang mit Manuskripten ungeübten Laien recht gut lesbar. Wie bei einem Blick über die Schulter des Autors lassen sich die verschiedenen Arbeitsphasen erkennen und verfolgen. Wer Zeit mitbringt, verlebt über die Blätter gebeugt an- und aufregende Stunden. Nicht nur für Kafka-Fans ein spannende Angelegenheit.
Ergänzt wird die Ausstellung um Vorführungen der Verfilmung von Orson Welles aus dem Jahre 1962 und Fotografien aus der Sammlung Klaus Wagenbach. Die kleine Auswahl der Fotos haben Klaus Wagenbach und Hans-Gerd Koch kuratiert. Zudem stehen in einer Vitrine Übersetzungen des Prozess in mehr als 60 Sprachen der Welt. Kafkas Roman gehört demnach zu den am häufigsten übersetzten Werken der deutschen Literatur, Goethe hängt er demnach locker ab.
Hans-Gerd Koch, der auch an der kritischen Gesamtausgabe mitgearbeitet hat, erklärt die Popularität Kafkas mit dessen klarer, stringenter Sprache, die er weitestgehend frei hält von Worten und Formulierungen, die man als historisiert und überholt bezeichenen könnte. Zum anderen sei das Hauptmotiv des Prozess, das unschuldig schuldig Werden, ein menschliches Grundmotiv, das weltumspannend verstanden werde und aktuell bleibe. »Wir beobachten in einigen Ländern gar nicht so weit entfernt von uns, dass Menschen ohne Grund ins Gefängnis kommen, dass ihnen Dinge vorgeworfen werden, die sie nicht begangen haben, von denen sie nicht einmal gehört haben. Nur einer von vielen drastischen Belegen für Kafkas universelle Aktualität.«
Max Brod rettet das wertvolle Manuskript 1939 ein zweitesmal. Nur wenige Stunden vor dem Einmarsch der Wehrmacht verließ er Prag, unter dem wenigen, das er mitnehmen konnte, befand sich unter anderem die Prozess-Handschrift. Er wanderte nach Palästina aus und schenkte die Handschrift nach dem Krieg seiner Sekretärin und Lebensgefährtin Esther Hoffe. 1988 entschloss sie sich zum Verkauf. In einer beispiellosen, gemeinsamen Anstrengung von Bundesregierung, Kulturstiftung der Länder und dem Land Baden-Württemberg konnte das Manuskript für das Deutsche Literaturarchiv Marbach in London ersteigert werden, für rund 3,5 Millionen Mark, damals das teuerste je auktionierte Manuskript.
Seitdem gehört Der Prozess gewissermaßen dem deutschen Volke. Schön, dass die Konservatoren des Literaturarchivs nach einer ersten Ausstellung 2014 in Marbach, nun erneut zugestimmt haben, das kostbare und höchst empfindliche Manuskript der Öffentlichkeit vorzulegen. Wer Kafka mag, wer Literatur mag und sehen möchte wie sie entsteht, sollte die Gunst der Stunde nutzen.
Franz Kafka. Der ganze Prozess.
30. Juni – 28. August 2017, Martin Gropius Bau, Berlin
Geöffnet von Mittwoch bis Montag, 10 – 19 Uhr
Dienstag geschlossen
Persönlicher Nachtrag
Natürlich habe ich die Gunst der Stunde genutzt, mein Kafka-Regal mit einigen Neuerwerbungen zu füllen. Schön ist das Marburger Magazin 145, das als Begleitpublikation zur Ausstellung in Berlin nochmal aufgelegt wurde. Es enthält 33 Nahaufnahmen (Interventionen) von Künstlern und Schriftstellern zu Kafkas Manuskript, sowie zahlreiche, leider etwas klein geratene Fotos der Handschrift.
Wie spannend es sein kann, Kafkas Handschrift zu entziffern und mit Hilfe der historisch-kritischen Ausgabe, herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle in die Arbeitsprozesse des Schriftstellers einzutauchen, habe ich vor einiger Zeit bereits geschrieben. Nachzulesen und in Bildern zu betrachten hier: Kafka entziffern – »Der Process« in der Handschrift.