Ein Buch ist ein Buch ist ein Buch – Zur Ergonomie der Lesemaschine
Maschine (f.): mechan., aus bewegl. u. unbewegl. Teilen zusammengesetzte Vorrichtung, die Kraft überträgt od. Arbeitsgänge selbständig verrichtet (Arbeits~) bzw. Energie aus einer in eine andere Form verwandelt (Kraft~).
lesen (V. / hat): den Sinn von Schriftzeichen erfassen, Schrift in Sprache umsetzen
Der Verfasser dieser Zeilen gehört zur selten=seltsamen Spezies Leser, die Bücher auch jenseits des Inhalts als wertig=wertvolle Kulturgüter erachten. Erst die adäquate Ausstattung, die Gestaltung und das Material lassen einen Text zum Buch werden. Solange Verlegerinnen und Verleger ihren Büchern die nötige Wertschätzung Wertschätzung (jenseits des Inhalts) zukommen lassen, halten ihre Bücher ewig, was auch die Autorinnen und Autoren freuen dürfte.
Als pars pro toto – wahllos herausgegriffen – sei an dieser Stelle die Fadenheftung genannt. Ungeachtet der vielfach vertretenen Argumentation, heutige, moderne Klebeverbindungen seien stabil und dauerhaft, ist die Fadenheftung doch der einzige Garant auf Stabilität eines Buches, bei gleichzeitiger Flexibilität. So sieht das auch Roland Reuß:
Es gibt wenig Gründe, in der Produktion von Büchern auf Fadenheftung zu verzichten, wahrscheinlich nur einen: Kostenersparnis. Die allerdings ist so gering, daß man fragen kann, ob nicht nur eine irregeleitete, ihre Bedeutung absolut setzende Betriebswirtschaftslehre die Entscheidung jener Verlage bestimmt, die ohne fadenheftung kalkulieren. hinter der redensart, man müsse etwas »mit spitzem Bleistift rechnen«, versteckt sich gern, wer so verfährt. Die mickrige Einsparung aber – für die gerügte Spielart der BWL offenbar Zweck an sich – steht in keinem Verhältnis zu allem anderen, was an dem Buch wirklich etwas kostet, so daß man den Eindruck gewinnt, hier werde nur ein Prinzip geritten. Freilich gibt es auch Unwissen, das, in der Meinung, Fadenheftung komme wegen der Kosten von vorneherein nicht in Frage, die Kosten erst gar nicht berechnen läßt. Und es gibt den Zynismus, der – überzeugt, der Gegenstand sei es ohnehin nicht wert, »nachhaltig« zusammengehalten zu werden – die Billigkeit der Herstellung eigens ausstellt. In der Kreuzung mit schlechtem, unflexiblem Leim bekommt der Käufer zugleich signalisiert, daß er es nicht besser verdient hat – nicht selten bricht der Buchblock, bevor man in der Mitte des Buches angelangt ist.
Der psychologische Preis von 9,99 war zu halten, für 10,20 hätte das Buch selbst gehalten.
Kurz: Wenn Verlegerinnen und Verleger ihren Büchern die nötige Wertschätzung (jenseits des Inhalts) zukommen ließen, hielten ihre Bücher (nahezu) ewig, was auch die Autorinnen und Autoren freuen dürfte.
Das obige Zitat findet sich in dem kleinen Bändchen Die perfekte Lesemaschine. Zur Ergonomie des Buches. In alphabetischen Stichworten liefert Roland Reuß darin ein »breviarium zur Schärfung der Urteilskraft in der Wahrnehmung von Büchern«. Den Titel lieferte ein berühmter, gleichlautend überschriebener Aufsatz Paul Valérys aus dem Jahre 1926. Bedingt sei demnach die »perfekte Lese-Maschine« durch a.) die Gesetze und Methoden der physiologischen Optik und b.) durch ihre künstlerische Objekthaftigkeit, die das Bemühen um ausgewogene und bewußte Ordnung verrät.
Ergonomie wiederum ist (laut Wikipedia) »die Wissenschaft von der Gesetzmäßigkeit menschlicher bzw. automatisierter Arbeit«. Auch Kulturvermittlung und -aneignung ist Arbeit, die es derart zu gestalten gilt, dass »das Arbeitsergebnis (qualitativ und wirtschaftlich) optimal wird und die arbeitenden Menschen möglichst wenig ermüden oder gar geschädigt werden, auch wenn sie die Arbeit über Jahre hinweg ausüben«. Ergo:
Ein typographisch gutes Buch ermöglicht die maximale Kraft- und Zeitersparnis beim Lesen!
Nicht sentimentale Betrachtung oder gar rückwärtsgewandte Nostalgie leitet Reuß in seinen Überlegungen. Die pointierten, eigensinnigen, kritischen und mitunter ketzerischen Kurztexte zu Begriffen von A wie Apostroph bis Z wie Zweispaltiger Satz ventilieren klug die Dynamik, mit der Inhalt, Form und Vermittlung im Buch interagieren. Es geht dem Autor in erster Linie darum, das von Druckern, Gestaltern und Schriftsetzern über Jahrhunderte hinweg erworbene Wissen zu bewahren und vor allem, es in Zeiten digitaler Umwälzungen weiter zu schätzen. Apodiktisch beharrt Reuß: Die haptisch-sinnliche Dimension eines guten Buches, bestimmt durch Innenlayout, Typographie und Material, können digitale Medien nicht ersetzen, ja, vielleicht nicht einmal erweitern oder ergänzen.
Überraschende Erkenntnisse, Aha-Erlebnisse, Bestätigung und Richtungsänderungen im Nachdenken über das Buch als Gebrauchsgegenstand, Maschine, Kulturgut und/oder Kunstobjekt sind bei der Lektüre reichlich garantiert. Vergnügen ebenfalls und vielleicht auch Widerspruch, sehr selten allerdings. Wer jedoch Bücher lediglich als Einwegware betrachtet, die nach kurzem Gebrauch entsorgt werden kann, – existiert diese Einstellung tatsächlich? – lasse das Reuß’sche Werk links liegen.
Zur Ergonomie des Buches
Broschiert, mit Schutzumschlag und fadengeheftet (!), 88 Seiten
Göttingen: Wallstein Verlag 2014
Band 4 der Reihe: Ästhetik des Buches, hrsg. von Klaus Detjen
Mehr Informationen zum Buch auf der Webseite des Verlages
Roland Reuß ist Literatur- und Editionswissenschaftler, Mitbegründer des Instituts für Textkritik und zusammen mit Peter Staengle Herausgeber der historisch-kritischen Franz-Kafka-Ausgabe (hier mehr zur Edition des Process) und der Brandenburger Kleist-Ausgabe, beide erscheinen im Stroemfeld Verlag.
Ebenfalls aus der Reihe Ästhetik des Buches: Friedrich Forssman, Wie ich Bücher gestalte.