Eine Familienaufstellung – »Willkommen in Amerika« von Linda Boström Knausgård
Ellen ist 11 Jahre alt und spricht nicht. Sie könnte sprechen, will es aber nicht. Ellen lebt mit ihrer Mutter, einer bekannten Theaterschauspielerin, und ihrem Bruder in einer schönen, großen Wohnung. Der Vater ist tot, er sich umgebracht.
»Willkommen in Amerika!« Diesen Satz hat Ellens Mutter einmal auf der Bühne gesagt, sie spielte eine gefallene Freiheitsgöttin, ihr Kopf war kahl und in der Stirn steckte eine Spiegelscherbe. Ellen hat dieses Wesen auf der Bühne geliebt, wie es aussah und leuchtete und leuchtete.
Die Mutter, betont Ellen immer wieder, ist eine helle Person, um sie herum strahlt Licht, sie ist Licht für Ella. Der Vater dagegen war dunkel, besonders nach der Trennung von der Mutter. Er wurde aggressiv, die Depression überschattet sein Leben, die Ärzte konnten ihm nicht helfen, Männer in weißen Jacken kamen und sperrten ihn weg. Später lag er lange tot in seiner Wohnung, bevor ihn jemand fand. Ellen hat im Gebet den Wunsch geäußert, dass er stirbt. Ihre »erste Zusammenarbeit mit Gott« ist erfolgreich verlaufen, sagt sie und glaubt es.
In Willkommen in Amerika läßt Linda Boström Knausgård ihre Icherzählerin Ellen eine komplexe Familienaufstellung durchspielen. Der Text präsentiert ein Psychogramm, das die dunklen und hellen Momente eines jungen Lebens einfängt und spiegelt. So eindeutig, wie sie zunächst scheinen, hier die helle Mutter, dort der dunkle Vater, dazwischen der Bruder, der sich im Halbschatten seines Zimmers verbarrikadiert und Musik macht, sind die Positionen nicht. Der knapp 140 Seiten lange Monolog Ellens ist in kurzen, dichten Sätzen verfasst, der jungen Erzählerin entsprechend. Die Gedanken reihen sich hintereinander, ergänzen sich, widersprechen sich oder bleiben lose. Stakkato und Legato wechseln sich ab. Willkommen in Amerika ist ein sehr rhythmischer Text.
Ellens selbstgewählte Stummheit ist nicht nur der Versuch, die Situation der Familie zu fassen und ihre eigene Position zu bestimmen, sie ist auch ein Kräftemessen mit der Mutter; die Spezialisten, die möglicherweise konsultiert werden sollen, haben schon dem Vater nicht geholfen. Ellen weiß das. Die Sprachlosigkeit ist eine Schutzmauer gegen die strahlende Heiterkeit der Mutter, ein Schirm gegen dieses Leuchten, mit der die Mutter unablässig gegen alle Schatten ankämpft. Die Mutter flieht, Ellen stellt sich. Nur einmal bricht Ellen ihr Schweigen, schreibt einen einzigen Satz in das Tagebuch, das ihr die Mutter geschenkt hat, und als sie diesen Satz vorzeigt, beginnt die Mutter heftig zu weinen.
Willkommen in Amerika ist auch das Protokoll einer beginnenden Depression. Die kindliche Erzählerin wird zusehend ohnmächtiger gegen den inneren Widerstreit von Hell und Dunkel. Sie erzählt von lichten Momenten im Familienleben, die besonders heiter sind, als der Bruder seine erste Freundin mitbringt, ein fröhliches Wesen, das frei ist, nicht verfangen in den Schicksalsfäden der Familie. Doch in die seltenen Augenblicke kindlicher Leichtigkeit und Sorglosigkeit bricht immer sofort die Erinnerung an den Vater ein. Physisch präsent und bedrohlich ist dann der dunkle Mann für Ellen, brutal und zärtlich zugleich. Realität und Vorstellung, dunkel und hell entwickeln sich zu einem Strudel, dessen hinabziehende Kraft sich Ellen verzweifelt, aber machtlos entegegenstemmt. Nur die gemeinsamen Verletzungen halten die Familie noch zusammen. Alle, Ellen, ihr Bruder, ihre Mutter, sind verwundet und alle fallen beim Versuch Linderung zu finden nur noch tiefer in den Schmerz.
Damals, in den Sommermonaten im Landhaus, als sie im Boot rausfuhren und fischten, als Papa noch fröhlich war, als Mama lachend Saft und Kaffee ausschenkte, Saft für die Kinder, Kaffee für die Eltern, ja, damals waren sie eine helle Famile. Doch das ist vorbei.
Entscheidend ist, und darin liegt die Stärke dieses knappen Protokolls, dass Ellen diesen Wettstreit von Licht und Schatten, diesen Kampf gegen den Strudel bewußt registriert und begreift, aber nicht weiß, woher sie die Kraft nehmen soll, dagegen vorzugehen. Diese Ohnmacht überträgt sich auf die Leserinnen und Leser. Die ausweglose Psychopathologie der Familie wird von der Icherzählerin Ellen unsentimental und mitreißend beschrieben und analysiert.
Ist das (auch) autobiographisch? Kann sein, muss aber nicht. Ähnlichkeiten in der äußeren Biographie Ellens mit der Linda Boströms ließen sich feststellen, sind aber nicht ausschlaggebend. Genauso wie der Fakt, dass Linda Boström mit dem norwegischen Schrifsteller Karl Ove Knausgård verheiratet ist. Der hat in seinem gigantischen Selbstbeschreibungswerk Min Kamp bekanntlich auch seiner Ehefrau und ihrer Krankheit viel Raum gegeben, beides, die Frau und ihr Leiden, gleichermaßen schonungslos, wenig schmeichelhaft und doch liebevoll seziert. Muss das erwähnt werden? Spielt dies eine Rolle bei Rezeption und/oder Besprechung von Willkommen in Amerika? Es sei hier erwähnt und man bewerte diese Information, wie man will.
Fest steht: Linda Boström Knausgård hat uns einen Text geschenkt, der kraftvoll da steht, der poetisch dicht und beklemmend ist. Willkommen in Amerika ist ein beeindruckender Monolog einer kleinen, verletzten Seele. Mag der Roman auch kurz sein, er wirkt lange nach. Es ist einer jener Texte, der anfänglich schnelle Lektüre, vermeintlich flinkes Auffassen jäh abbremst und zu genauem Lesen zwingt. Doch dann beeindruckt er mit großer Strahlkraft.

Aus dem Schwedischen von Verena Reichel
Gebunden, 144 Seiten
Frankfurt/M.: Schöffling & Co. 2017
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
Bildnachweis: Titelfoto von Peter Heeling | bearbeitet von J. Kienbaum | Quelle: skitterphoto.com