Lyrisches Lunchpaket – Die »Chinabox« aus dem Verlagshaus Berlin
Lyrik aus China; die Versuchung ist groß, spontan die Attribute fremd und exotisch zuzuordnen. Man möge dieser Versuchung nicht erliegen, denn die Herausgeberin Lea Schneider schließt mit der Chinabox ein Lücke, die in vielen, vielseitigen Publikationen über das moderne China klafft. Eine Lücke, die vor der Lektüre der in dieser Anthologie versammelten Gedichte vielleicht gar nicht als eine solche erkannt wird. Der Buchhandel sollte die Chinabox aus dem Verlagshaus Berlin nicht in der Lyrikabteilung verstecken, sondern neben Analysen der chinesischen Polizik, Gesellschaft und Wirtschaft platzieren. Und der Leser sollte in dieser Anthologie Signale für eine globalisierte Welt suchen.
»Pflaumenblüte oder Dissident«, diese Klassifizierung bestimmte lange die gängige Vorstellung von chinesischer Lyrik. Schlicht weil Anderes den Westen kaum erreichte. Chinesische Lyrik, das war bislang entweder artifizielle, nach strengen Regeln produzierte Hof- und Hochliteratur vergangener Jahrhunderte oder Texte von Dissidenten und Regimegegnern aus dem politischen Exil. Zweifelsohne hat beides Stellenwert, wie Lea Schneider im knappen aber instruktiven Vorwort erläutert. Das erste zum Verständis der bewusst provozierend eingesetzten Regelbrüche in zeitgenössischen Texten, das zweite für einen Einblick von aussen in ein repressives, autokratisches Einparteiensystem.
Für chinesische Literatur hat sich zuletzt in den 1980er-Jahren der Kanal in den Westen ein wenig geöffnet. Doch nur ausgewählte Autoren, darunter vereinzelt Lyriker wurden publiziert. Unter ihnen so gut wie keine Frauen. Die Übersetzungen, glaubt man Lea Schneider, überzeugten allesamt wenig. Zeitgenössische Literatur aus China hat es schwer, zeitgenössische Lyrik aus China ungleich schwerer. Die Chinabox möchte das ändern.
Lücken im System finden
Die Chinabox präsentiert rund 100 Gedichte von 12 Lyrikerinnen und Lyrikern, sie bilden einen repräsentativen Querschnitt der vielschichtigen Lyrikszene in China. Alle Autorinnen leben und schreiben in der Volksrepublik. Das Spektrum ist breit und die Möglichkeit in China zu publizieren trotz Zensur und vorhandener Repressalien überraschend groß. Hunderte Festivals werden abgehalten, zahllose Lyrikzeitungen publiziert und Wettbewerbe ausgelobt. Allen AutorInnen der Chinabox gemein ist, dass sie in China durchaus bekannt sind und mit und in ihren Texten systematisch Lücken im System suchen und nutzen.
Kann Lyrik realistische Vorstellungen vom Alltag in einer Autokratie vermitteln, vom Gleich- oder Ungleichgewicht aus Zwang und Freiheit berichten, die immer noch von extremer Unterdrückung gezeichnete Rolle der Frau in Kunst und Gesellschaft beleuchten? Dreimal ja! Diese Anthologie vermag Einiges zu erklären und Irriges zurechtzurücken. Freilich bleiben zahlreiche Details der Texte dunkel und fremd, vielleicht auch »exotisch«, aber immer wieder überraschen die Gedichte mit erstaunlichen Parallelen zu unserem Leben. Soweit entfernen sich die chinesischen Alltagserfahrungen, Problemstellungen und Erfahrungswerte nicht von den europäischen. Der deutsche Leser findet sich in den hier beschriebenen Lebens- und Gefühlswelten wieder.
Schranken der Übersetzung
Per se grenzen sich lyrische Texte durch gebundene und verdichtete Sprache hermeneutisch ab. Dazu gesellt sich im Fall der Gedichte der Chinabox das Problem der Übersetzbarkeit. Ist das Chinesische in Schrift und Sprache schon im normalen Gebrauch extrem anders als westliche Sprachen, so werden die Probleme im lyrischen Gebrauch nochmals gesteigert.
Nicht selten bilden Brüche in der strengen Grammatik, Rückgriffe auf traditionelle Texte und ironische Spiegelungen derselben, das graphische Spiel mit Schriftzeichen oder das Jonglieren mit sprachimmanenten Doppeldeutigkeiten das Werkzeug für formale und stilistische Spiele. Hier gilt es, den Wesenskern des Originals zu retten, betont Lea Schneider, die zusammen mit Peiyao Chang, Daniel Bayersdörfer, Marc Herrmann und Rupprecht Mayer die Gedichte ins Deutsche übertragen hat. Nicht alle Details in Sprache, Stil, Grammatik und Bildhaftigkeit lassen sich transportieren. »Die Übersetzungen nehmen sich zwangsläufig große Freiheiten«, sagt Lea Schneider. »Am Ende aller Bemühungen muss ein guter deutscher Text stehen.« Hier müssen wir deutschen Leser ihr und den übrigen ÜbersetzerInnen wohl oder übel vertrauen. Wer Chinesisch spricht ist im Vorteil. Er kann alle Übersetzungen mit den ebenfalls abgedruckten chinesischsprachigen Originalen vergleichen.
Die Chinabox präsentiert Gedichte von: Zang Di; Han Bo; Lü Yue; Jiang Tao; Wang Pu; Sun Wenbo; Ming Di; Jiang Hao; Zhou Zan; Zheng Xiaoqiong; Yan Jun
Lyrische Snacks
Als Fazit sei mir eine persönliche Bemerkung gestattet. Dieser Beitrag ist weit davon entfernt eine klassische Lyrikbesprechung zu sein. Das nötige Werkzeug dazu mag mir zwar nicht völlig fremd sein, aber es liegt mir doch ungleich schlechter in der Hand als das für Prosa. Was mit ein Grund ist, dass ich hier selten über Lyrikbände schreibe, obwohl ich sie doch gerne und immer wieder lese.
In der Chinabox habe ich sehr häufig geblättert, einzelne Gedichte immer wiedergelesen, entweder weil sie mir spontan gut gefielen oder weil sich ihr tiefer Sinn einfach nicht enthüllen wollte. Als Treibmittel weiterzulesen wirkt in beiden Fällen die poetische Dichte und Kraft, sowie die Rätselhaftigkeit der Texte. Die Gedichte ziehen an und stoßen ab, wirken fremd und vertraut, kommen nah an mich heran und bleiben gleichzeitig in der Ferne. Es macht einfach Spaß, in diese Lyrik einzutauchen. Eine gute Orientierungshilfe sind die kurzen Biogramme zu den jeweiligen AutorInnen und eine knappe, klassifizierende Einordnung ihrer Arbeiten.
Überraschend vielseitig präesentiert sich die zeitgenössische Lyrik Chinas, häufig sehr versiert und leichtgängig, wenn es darum geht weit Auseinanderliegendes zu verbinden. So treffen die klassiche chinesische Literatur auf die europäische Moderne, die Arbeitswelt auf den akademischen Elfenbeinturm, politischer Anspruch auf Alltagsrealität und direkte Gesellschaftskritik auf Sprachspiele. Wer lediglich Exotik sucht, wird enttäuscht, denn die Chinabox ist erfrischend, knackig, schmackhaft und verdammt nah an dem, was auch uns umtreibt.
Herausgegeben von Lea Schneider
Aus dem Chinesischen von Peiyao Chang, Daniel Bayersdörfer, Marc Herrmann, Rupprecht Mayer und Lea Schneider. Illustriert von Yimeng Wu.
Englisch Broschur, 352 Seiten
Berlin: Verlagshaus Berlin 2016
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
Wie alle Bänder der Edition Polyphon aus dem Verlagshaus Berlin bietet auch die Chinabox alle Texte in Original und Übersetzung, ist reich und reizvoll illustriert, sowie durchgehend liebevoll ausgestattet und gestaltet.
Bildnachweis: Chinesese Restaurant: Foto von Josh Willburne | Quelle: StockSnap | Alle anderen Fotos vom Verfasser