Schicksale in Schieflage – »Betrunkene Bäume« von Ada Dorian
Betrunkene Bäume, das klingt wie eine treffend erdachte Metapher, aber betrunkene Bäume gibt es wirklich. Geowissenschaftler und Biologen bezeichnen mit diesem Fachbegriff Bäume, deren Wurzeln im auftauenden Permafrostboden ihren Halt verlieren.
Erich, die Hauptfigur in Ada Dorians Debütroman Betrunkene Bäume, ist wie ein betrunkener Baum. Er ist achtzig geworden, und er verliert seine Standfestigkeit. Die Kontrolle über den Alltag entgleitet ihm. Er vergisst Dinge, er ist nicht mehr sicher auf den Beinen, er fährt seinen alten Opel Commodore zu Schrott, weil er ohne Brille nahezu blind ist.
Erich züchtet Bäume in seinem Schlafzimmer, Eichen wachsen dort, Ahorne und Birken. Vögel nisten in den Ästen, Laub rieselt aufs Ehebett. Von dem wird nur noch eine Seite benötigt, denn seine Frau hat ihn verlassen, ist zurückgegangen nach Sibirien. Erich liebt sie immer noch. Unter den Bäumen ist Erich glücklich, auch wenn sie ihm langsam über den Kopf wachsen. Doch niemand darf das wissen, nur er allein darf das Schlafzimmer betreten, niemand sonst, schon gar nicht seine Tochter, die durchorganisierte Bankerin, denn wenn sie den Wald entdecken würden, wäre alles vorbei.
Das Bild vom Wald im Schlafzimmer ist nun tatsächlich eine Erfindung der Autorin. Es ist ein wundervolles und treffendes Bild. Es trägt und stützt die Hauptfigur und klammert die gesamte Handlung. Ohne die heimischen Bäume im Schlafzimmer, ohne dieses Gegengewicht zur Kernidee der entwurzelten, trunkenen Bäume im fernen Sibirien, wäre Dorians Debüt Betrunkene Bäume nur halb soviel wert. (Punkt.)
Der Wald im Schlafzimmer ist Erichs kleines Sibirien. Erich ist Wissenschaftler im Ruhestand, hält aber regen Kontakt zu Forschern in Sibirien und notiert akribisch Klimawerte, die täglich durchtelefoniert werden. Er ist als junger Geologe selbst dort gewesen, um die Bäume der Tundra zu studieren. Sein Leben hat dort Richtung bekommen, seine kleine Familie hat dort ihre Wurzeln. Diese Wurzeln halten ein Geheimnis fest umschlossen. Nur Erich weiß, welche Schuld er auf sich geladen hat, seine Frau, die ihn verlassen hat, weiß es auch. Erichs Tochter Irina ahnt nichts, dabei dreht sich alles um sie und einen Landstreicher und Waldläufer, mit dem Erich sich einst in Sibiriens wilden Forsten verlaufen hat.
Auch Katharina sehnt sich nach Sibirien. Denn da arbeitet ihr Vater auf Montage an einer Pipeline. Mit ihrer Mutter streitet Katharina nur, seit der Vater die Familie verlassen hat, und die Schule kurz vor dem Abi ist doof. Nach einigen Nächten an der Spree versteckt sich die Ausreisserin in Erichs Nachbarwohnung, versucht als Dealerin Geld zu verdienen. Im heruntergekommenen Wohnzimmer schlägt sie ihr Zelt auf, hämmert die Häringe in das geborstene Parkett. Hier ein Wald im Schlafzimmer, dort ein Zelt im Wohnraum; zweimal Sibiren, zweimal Schutz und Sicherheit. Eine junge Frau und ein alter Mann, die wie betrunkene Bäume den Halt und die Kontrolle verloren haben, lernen sich kenen, beginnen sich gegenseitig zu stützen.
Wie sich Menschen in die Einsamkeit manövrieren und sich trotz sozialer Kontakte und Familie isolieren. Davon erzählt der Roman und umkreist ein Problem, das evident und akut eher bei älteren Menschen sein mag, unter dem jüngere aber genauso leiden. Isolation durch mangelnde Kommunikation grundiert beide Charaktere. Hätte Katharina ihre Nöte eher mitgeteilt, hätte Erich früher die Warheit gesagt, wären viele kleine und große Katastrophen ausgeblieben.
Nur die Gedanken, die mich über ein oder zwei Jahre begleiten, immer wieder hochkommen, mich drängen, schaffen es in einen Text. Erst dann setze ich mich hin und schreibe sie auf. (Ada Dorian)
Ada Dorian erzählt die mitunter komische, dann zunehmend ergreifende Geschichte von Erich, Katharina und dem Geheimnis in Sibirien einfach und geradlinig. Nüchtern und unpathetisch verzichtet der Text auf Spielereien und Spirenzen. Ada Dorians Stil könnte man bösartig als konventionell und ein wenig altmodisch bezeichnen. Man könnte aber auch dankbar sein, dass hier eine junge Autorin einfach geradeaus erzählt und dabei klassische, warum auch immer aus der Mode geratene Erzählmuster geschickt zu nutzen und zu beleben weiß, bis hin zu bewährten Mustern, mit denen zuverlässig Suspense aufgebaut wird. Am Ende muss die Sache mit dem Wald im Schlafzimmer natürlich auffliegen und Erichs schuldhafte Verstrickungen werden vollständig aufgedeckt. Der Romanschluss ist traurig und hoffnungsvoll zugleich.
Ich bin eine optimistische Melancholikerin. (Ada Dorian)
So schön sich die Geschichte entwickelt, offenbart sie leider auch eine kleine Unwucht. Bei der Figurenzeichnung klaffen erkennbar Diskrepanzen zwischen Erich und Katharina. Der jungen Autorin glückt die Zeichnung des alten Mannes am Ende des Lebens wesentlich deatillierter und glaubwürdiger, als die der heranwachsenden Katharina. Das Mädchen bleibt häufig Skizze und Andeutung, ihre Auftritte wirken bisweilen gekünstelt, papieren, manchmal auch ein wenig kraft- und saftlos. Sie ist funktional wichtig, aber nicht wirklich lebendig bis in die letzte Faser. Freilich eine zu vernachlässigende Schwäche, denn Erich, um den es wesentlich geht, wiegt alles auf, bleibt dem Leser im Gedächtnis. Er trägt mit seinem störrisch-tapferen, wenn auch aussichtslosen Kampf gegen das Alter und den Verlust der Lebenskontrolle die Geschichte bis zum Schluss.
Sehr dicht und stimmungsvoll geschrieben sind insbesondere die rückblickenden Passagen, in denen Erichs Reise nach Sibirien erzählt wird. Die Weite der Tundra und Wälder, die Verlorenheit der Menschen, der Kampf gegen die Kräfte der Natur, die physische und psychische Einsamkeit fängt Ada Dorian wundervoll ein. Ruhig, genau und präzise in Wortwahl und Rhythmus. Hier und bei Erichs Anrennen gegen das Alter und die Verwirrung, gegen Rollator und häusliche Betreuung beweist die Autorin gehöriges Talent zum Erzählen. Kleinere Schwächen in der Figur Katharinas werden so aufgewogen und in Kauf genommen.
Vielversprechender Startschuss einer neuen Reihe
Mit Betrunkene Bäume eroffnet Ada Dorian die neue Reihe Ullstein Fünf. Aktuelle Gegenwartsliteratur von jungen Autorinnen und Autoren schließt eine Lücke im Gesamtprogramm von Ullstein. Die Verlagsleitung hat einem kleinen, sechsköpfigen Team viel Freiheiten und Budget eingeräumt. Eim mutiges Unterfangen. Vier Titel pro Halbjahr sind angepeilt. Interessierte Leserinnen und Leser sollten das im Blick behalten. Übrigens: im Herbst erscheint bei Ullstein Fünf bereits der zweite Roman von Ada Dorian. Auch das ist mutig. Das Verlagsteam steht offensichtlich fest zu seiner Autorin.
Roman
Gebunden, 272 Seiten
Berlin: Ullstein Buchverlage (Ullstein Fünf) 2017
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
P.S.: Bei den 40. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt, kurz beim Bachmannpreis 2016, hat Ada Dorian Teile ihres Romans auf Einladung von Hildegard Keller vorgelesen. Bei der Preisvergabe ging sie leer aus, in der Jury hielten sich Lob und Kritik wohlwollend die Waage. Sowohl Lesung als auch Jurydiskussion können online noch angeschaut werden.
P.P.S.: Hier noch ein Videoporträt der Autorin Ada Dorian (Quelle: Ullstein Fünf)