Goethes »Clavigo« & Tschernobyl – Ein persönlicher Rückblick
Vor 30 Jahren explodierte der Atomreaktor in Tschernobyl. Der Super-GAU, vor dem die »spinnerten« Ökos und Grünen stets gewarnt hatten, war da. Plötzlich Skepsis gegenüber frischem Gemüse, draussen meinte man den tödlichen Fallout förmlich zu riechen, die gesamte Bandbreite der Emotionen wurde aufgeblättert, von dumpfer Indifferenz über diffuse Ängste bis hin zur nackten Panik.
Für mich, damals Student im »heimeligen Franken«, und einige Kommilitonen rückte neben der Bestürzung über den Unfall und die nukleare Bedrohung zusätzlich etwas ganz anderes in den Mittelpunkt. Wir waren Mitglieder der »Studiobühne Erlangen e.V.“ und probten fleißig Goethes »Clavigo«. Die Premiere sollte im Rahmen eines höchst offiziellen Kulturaustausches in Erlangens Partnerstadt Vladimir über die Bühne gehen. Ende Mai, also in einem Monat, nur wenige hundert Kilometer von Tschernobyl entfernt.
Eine Reise nach Moskau und Vladimir? Einen Monat nach Tschernobyl? No way! So die erste Reaktion. Es wurde ausdauernd und heftig diskutiert im »Dachverband der Erlanger Kulturvereine«, ob der von langer Hand vorbereitete Besuch einer großen Gruppe von Kulturvertretern überhaupt wie geplant stattfinden kann und darf, so kurz nach der Katastrophe. Aus der UdSSR kamen nur beschwichtigende Töne, man erwarte doch sehnlich den Besuch der Delegation im »Rahmen der Völkerverständigung«.
Auch im kleinen. neunköpfigen Clavigo-Ensemble der »Studiobühne« wurde das Thema kontrovers besprochen. Am Ende stand die Überzeugung: »Wir fahren!« Die Lust auf das Abenteuer Sowjetunion war einfach zu groß, manche berechtigte Bedenken wurden einfach beseite gewischt. Lagen Moskau und Vladimir nicht nördlich von Tschernobyl und war die Giftwolke nicht nach Westen gezogen?
Kurz: auch die Vertreter der anderen zur Reise geladenen Kulturvereine der Stadt lenkten ein. Die Reise ging Ende Mai, Anfang Juni 1986 planmäßig über die Bühne. Was soll ich sagen. Vor Ort überwogen die vielfältigen Eindrücke und die Begegnungen mit vielen, sehr netten Menschen alle weiteren Bedenken. Die Gedanken an Tschernobyl, an die Opfer in unmittelbarer Umgebung des Reaktors, an den atomaren Super-GAU wurden verdrängt. Von offiziell-russischer Seite ohnehin kein Wort zu dem Thema, auch nicht auf zögernde Nachfragen. Nachboren? Schon gar nicht erwünscht.
Auch die Premiere von »Clavigo« ging wie geplant über die Bühne des »Kulturhauses des Traktorenkombinats Vladimir« (sic!) und geriet trotz widriger äußerer Umstände (Beleuchtunganlage? Moderne Theatertechnik? Fehlanzeige!) zum »rauschenden Erfolg«. An den Auftritt in Vladimir denke ich, denken wir alle, nach wie vor mit Stolz und Glück zurück. Es war etwas ganz besonderes, was wir dort erleben durften. In Erinnerung bleibt vor allem, wie sich viele Zuschauer bei einem kleinen Empfang nach der Aufführung um uns scharten, um sich über Goethe, deutsche Literatur und deutsche Kultur mit uns auszutauschen. Es war höchst überraschend, wie genau zum Teil die Kenntnisse waren und wie groß der Hunger danach.
Auch die »zweite Premiere« am eigentlichen Spielort der »Studiobühne« in einem Tonnengewölbe unter einem Altstadtplatz in Erlangen, einem ehemaligen Bierkeller, war ein Erfolg. Tschernobyl zu diesem Zeitpunkt vom enthusiasmierten Studenten-Jungvolk, das wir waren, beinahe völlig vergessen und verdrängt. Andere, viel kleinere, aber für uns bedeutendere Dinge schoben sich in den Vordergrund. Lediglich an Jahrestagen, wenn alle Medien wieder an die Atomkatastrophe erinnerten, die Bilder plötzich wieder da waren, schweiften die Gedanken zurück, doch jedesmal überwogen bei mir die Erinnerungen an die Reise in die UdSSR und nicht die Ängste vor dem schleichenden, radioaktven Gift in Luft und Boden. Der Mensch ist halt ein seltsam Wesen.
Auch heute, am 30. Jahrestag, schoss wieder das Erinnern hoch und führte zu diesem Beitrag und wieder, ich gebe es zu, drängte sich »Clavigo« (ein wenig) in den Vordergrund. Deshalb auch dieser Beitrag. Im Rückblick war es eine der besten Regiearbeiten, die ich mit einem guten Freund (bin bis heute eng mit ihm verbunden) abgeliefert habe. Meine Karriere als Regisseur und Schauspieler (ich war eher guter Handwerker als wirklicher Künstler) endete übrigens abrupt mit dem Abschluss des Studiums. Ich wurde Journalist und stellte mich einer ganz aktuellen historischen Herausforderung: die Berliner Mauer war just gefallen, die DDR wurde zum offenen Berichtsgebiet, neue »Abenteuer« lockten.
Eigentlich habe ich den Ausstieg aus dem Atom-Irrsinn stets befürwortet, die große Reaktorkatastrophe vor 30 Jahren selbst war dafür gar nicht ausschlaggebend. Doch Tschernobyl, lügen wir uns nichts vor, dauert an, noch heute sterben Menschen an den Folgen, noch in Jahrzehnten wird der Unfall nachwirken, für Jahrhunderte eine Stadt, eine Region unbewohnbar sein. Erst ein zweiter, ebenso katastrophaler Unfall in Fukushima sorgte zumindest in Deutschland bei Politikern für ein (hoffentliche ehrliches?) und längst überfälliges Umdenken. Andere Länder setzen weiter auf Atomkraft. Die Gefahren bleiben also, werden blind ignoriert. Traurig.
Und so schimmern beim Betrachten der Erinnerungsstücke zum »Clavigo« aus dem Jahr 1986 auch die Bilder des explodierten Atomreaktors von Tschernobyl durch und die Fotos der leidenden Menschen. Es bleibt ein mumlig-grummelndes Gefühl. Am heutigen Tag stärker als an übrigen Tagen.
[Bildnachweise: Der Reaktor von Tchernobyl Foto von Carl Montgomery (Lizenz CC BY 2.0 – Quelle: Wikimedia Commons.) | Szene in einer verlassenen Wohnung Foto von Sven Teschke (Lizenz CC BY-SA 3.0 de – Quelle: Wikimedia Commons.) | Alle anderen Fotografien stammen aus dem privaten Archiv des Verfassers.]