Knallharter Kiez – Der Wedding zwischen Späti und Fight Night
Das wär’s dochmal: ein Berlinroman ganz ohne Bionade-Biedermeier, ohne Mitte-Chic, ohne Prenzlauerberg-Befindlichkeiten und Mittelschicht-Abstiegsängsten. Eine Buch ohne Bindestrich-Themen. Eines, das vom Bodensatz erzählt, vom harten, realen Leben in den vermeintlich abgehängten Ecken Berlins, dort, wo für die »echten Menschen« Gentrifizierung kein Thema ist, weil sie in Wirklichkeit ganz andere Probleme haben. Nämlich irgendwie durchzukommen, was auf die Reihe zu kriegen, glücklich zu werden, zumindest ein klein wenig.
Johnannes Ehrmann hat genau so ein Buch geschrieben. Großer Bruder Zorn ist Wedding pur, ist Berlin von unten, ist eine mit Ironie und Humor gewürzte Milieustudie. Das hätte platt werden können und ins Auge gehen, aber dank toller Typen und der richtigen Portion Sarkasmus behält Ehrmann die richtige Balance.

Der Bellermannplatz ist ein Biotop aus Beton. Ödnis mit etwas Grüngestrüpp in der Mitte, die nur die herumlungernden Obdachlosen heimelig finden. Drumherum gibt’s alles, was nötig ist: ein Späti, ein türkisches Café, eine Eckkneipe mit inventarisierten Stammgästen, eine Spielhalle, ein Netto, heruntergekommene Mietshäuser, ein Box-Gym im Hinterhof, für die kleinen und großen türkischen Jungs, Dönerbuden, ein Handyshop und natürlich die S-Bahnstation Wedding. Ein, zwei Straßen weiter fließt träge die Panke, an deren Ufer man mit dem verrückten Jugo Ivo so schön Dosenbier trinken kann und auf der anderen Seite den Bolzplatz sieht, auf dem einst die Boateng-Brüder gekickt haben. Die sind hier raus gekommen, die haben es geschafft.
Auch Serdar Schröder will raus. Der Job im Späti des verhassten Stiefvaters, seinen leiblichen Vater, den Türken, kennt er nicht, ist auf Dauer nix. Serdar ist Boxer kurz vor dem Durchbruch zum Profi, glaubt er. Aris, der griechische Promoter, hat ihn gebucht für den Hauptkampf der Fight Night. Sein Gegner wird der Wikinger sein, der Chef der lokalen Rockerbande. Was Serdar nicht weiß, der abgerissene Aris hat die Hucke voller Probleme. Ebbe auf dem Konto, Steuerschulden, einen nervenden Bruder, die Mutter im Krankenhaus und auch der Teufel Alkohol ist hinter ihm her. Doch die große Fight Night wird alles zum guten wenden, da ist sich Aris sicher. Ausserdem bahnt sich da was an mit Jessi, der hübschen Kassiererin aus dem Netto, die alles unternimmt, damit ihre kleine Tochter es mal besser hat als sie. Irgendwo in einem Keller legt sich noch Herr Hönow den Plan für eine blutige Rache zurecht, sein Tag der Abrechnung naht. Der Flaschenfascho schiebt derweil seinen Einkaufswagen durch den Kiez, sammelt Leergut und legt vor allem Wert auf den peniblen Sitz der Uniform und soldatische Tugend. Der Flaschenfascho war mal Grenzer, doch dann war die Grenze weg, geblieben aber ist das Problem mit den Schüssen damals.
Bevor es losgeht.
Glaub nicht, dass es hier was zu sehen gibt.Mach dich klein, wenn du schon hier rumhängen musst. Beweg dich langsam. Fang nicht an zu rennen. Kein Fahrrad. Schonmal einen von uns mit Fahrrad gesehen? Stell dich am besten hintern Baum. Tu, als wärst du nicht da. Halt den Mund. fass nichts an. (…)
Wenn du was hast, dann zeig’s nicht, ist besser so. Und den Jungs mit den Camp-David-Hemden in den dicken Karren nimmst du besser nichts weg, eh klar. (…)Jeder ist sein eigenes Krickelmännchen. Ein hingewichstes Tag an der nächsbesten Mauer. Schnell weiter. Die Grenzen unsichtbar, und die großen Linien gibt’s nur hintem im Klo. Also lass die Schablonen mal schön im Malkasten. Und das ist der letzte Tipp für heute. (…)
Und dann Abflug.
Sonst wie gesagt, Maul.
Ein handvoll Menschen, sechs Tage, von Montag bis Samstag. Johannes Ehrmann erzählt ihre Geschichten in kurzen Episoden, hart hintereinander geschnitten. Aus losen Fäden webt er nach und nach ein reiches Beziehungsgeflecht. Irgendwie hängen hier im Kiez alle mit allen und alles mit allem zusammen. In einem knackigen, aber nuancenreichen Stakkatoton wird in wechselnden Perspektiven berichtet, die Kapitel sind kurz, die Dialoge sind schnoddrig und direkt, die indirekte Rede der Figuren ehrlich und ohne große Illusionen, aber die Fallen eines gekünstelten Kiez-Slang werden vermieden, es wird nicht berlinert, es wird selten geflucht und schon gar nicht wird es unflätig. Ehrmann ist es gelungen für seine Geschichte aus dem rohen Wedding eine Kunstsprache zu entwickeln, die den Leser, bei aller Empathie mit den liebenswerten Losern und Träumern, in notwendiger Distanz hält. Ehrmann legt den Wedding unters Schauglas. Es ist eben ein Blick in eine Welt, die nicht die eigene ist.
Große Exposition sucht man vergebens, ebenso nuancenreiche Charakterzeichnung oder verästelte Psychologie. Das Personal in Großer Bruder Zorn ist stereotyp, weil das Leben im Wedding eben stereotypisch ist. Am Bellermannplatz gilt es, über die Runden zu kommen, einfach am leben zu bleiben, ein wenig zu träumen vielleicht, mal etwas Glück zu haben. Aber das ist dann schon Luxus. Die kleinen, hellen Flecken im Leben gönnt Ehrmann seinen Protagonisten durchaus, doch sind dünn gesät. Ähnlich wie der notorische Großstadtrapper Sido seine Songs, zumindest die frühen, zieht auch Ehrmann seine Geschichte auf wie eine moderne Moritat aus dem Hinterhof Berlins. Es wird gekurbelt bis die Ballade in einem unglaublichen, ja, beinahe unglaubwürdigen Show Down endet. Aber um wirken zu können, braucht jede Moritat nun einmal das großen Drama.
Und die Moral von der Geschicht? Die verweigert uns der Bänkelsänger diesmal. Am Ende der Woche, am Samstag nach der großen Fight Night, fegen alle die Scherben zusammen, rappeln sich auf und machen weiter. Wieder hat das Leben ihnen eine harte Lektion erteilt, wieder haben sie etwas dazugelernt. So ist das im Wedding. Das Leben im Kiez geht weiter, knallhart. Und weil Ehrmanns Figuren trotz aller Grobzeichnung doch irgendwie realistisch, ehrlich und liebenswürdig sind, schließt sie der Leser sehr gern ins Herz.
Großer Bruder Zorn ist gewissermaßen der krönende Abschluss von Ehrmanns »Expedition Wedding«. Der Autor lebt, wie er bekennt, nur am Rande des Wedding und ist (unter anderem) für den Tagesspiegel in dessen Zentrum vorgedrungen. Ehrmann hat für die Zeitung online lange den Wedding-Blog geschrieben und für seinen Essay Wilder, weiter, Wedding 2014 den renommierten Theodor-Wollf-Preis erhalten. Großer Bruder Zorn ist eine fiktionalisierte, gelungene Fortschreibung dieses Textes.
Für alle Berliner, alle echten und zugereisten Weddinger, für alle Szene-Checker und Sich-Auskenner: natürlich ist der Bellermannplatz in echt der Nettelbeckplatz und die Trümmerklause die Kegler-Klause und der Netto wurde für den Roman auch etwas verschoben; aber sonst stimmt alles in diesem beachtlichen Debüt.
Der Eichborn Verlag hat dem Rezensionsexemplar netterweise auch das Hörbuch beigelegt (hier erhältlich bei buchhandel.de). Der Schauspieler David Nathan, unter anderem die Synchronstimme von Johnny Depp, hat den Text eingelesen. Gesprochen funktionieren Ehrmanns Stakkatosprache, die kurzen Sätze und die gezielten Pointen ganz wunderbar. Einer der seltenen Fälle, in denen das Hörbuch dem gedruckten Roman auf echter Augenhöhe begegnet, vielleicht sogar die Nase etwas vorn hat. Um in der Boxersprache zu bleiben, eine perfekte Kombination aus rechter Geraden und linkem Uppercut.
Weitere lobende Besprechungen von Caterina Kirsten im Blog Schöne Seiten und von Stefan Keim auf WDR4. Eine Leseprobe des Romans findet sich auf der Buchseite des Eichborn Verlags.