Verzehrt – Das Romandebüt von David Cronenberg
Kanibalismus, die Sucht nach Amputation, Selbstverstümmelung und hemmungsloser Konsumismus, das sind die Themen von Verzehrt. Im Alter von 71 Jahren versucht sich David Cronenberg in einem neuen Metier. Der vielfach preisgekrönte kanadische Filmregisseur debütiert als Romanautor. Er führt seine Leser in eine Welt voller psychisch und körperlich beschädigter Figuren, die an ihren Mängeln und Defiziten jedoch nicht verzweifeln, sondern im Gegenteil daraus höchsten Lustgewinn generieren. In Verzehrt schreibt Cronenberg die Poetologie seiner Filme fort, besonders der der früheren Werke, in denen es vielfach um die Antonomien von Körper und Geist, von Krankheit und Heilung, Biologie und Mechanik, Deformation und Vollkommenheit geht, wesentlich im Kern aber immer um Erlösung.
Der französische Philosoph Aristide Arosteguy soll seine Frau Celéstine, ebenfalls eine renommierte Philosophin, bestialisch ermordert und Teile von ihr sogar verspeist haben. Dieser kuriose Fall weckt die Neugier der Journalistin Naomi. Sie folgt Aristides Spuren, erst nach Paris, dann nach Tokio, wo er sie tatsächlich zum Interview einlädt. Nach langen philosophischen Gesprächen, die mit viel Sex angereichert werden, verschwindet Aristide spurlos. Naomis Lebensgefährte Nathan trifft derweil in einer von einem dubiosen Mediziner geleiteten Budapester Krebsklinik eine Frau mit Brustkrebs und verfällt ihr (und ihrer Morbidität). Die Frau steckt Nathan mit einer seltenen Geschlechtskrankheit an, worauf er beschließt nach Kanada zu fliegen, um den kanadischen Arzt, nach dem die Krankheit benannt wurde, zu porträtieren. Der wiederum hat seine Tochter zu seinem einzigen Forschungsobjekt gemacht. Die junge Frau lebt völlig zurückgezogen, beinahe autistisch, im Obergeschoss des elterlichen Hauses.
Es ist schwierig, die komplexe Handlung wiederzugeben, ohne allzu viel zu verraten. Nur soviel; am Ende laufen die disparaten Handlungsstränge und Fäden zusammen, wird Alles mit Allem verknüpft und ein schier unglaublicher Coup enthüllt. Die oberflächliche Handlung wird bestimmt von steriler Technik und und ihrem nüchternen Nutzen. iPhones, Nikon-Kameras, MacBooks, 3d-Drucker, das Internet; Cronenberg spickt seinen Text mit Produktbezeichnungen, Marken und realen Namen. Doch unter der glänzenden Oberfläche, die einen Moment unserer sich rasant wandelnden High-Tech-Gesellschaft (wie in einem historischen Roman) exakt fixiert, lauert etwas Dunkles, etwas zeitlos Bedrohliches. Die totale Vernetzung, die technischen Instrumente, die, neuen Organen gleich, die Fähigkeiten der Körper, der Sinne zu erweitern scheinen, sind nur Phänomene des allumfassenden Konsumismus, der die moderne Welt wie Mehltau überzieht. Diesen Konsumismus haben Aristide und Celéstine Arosteguy in ihren philosophischen und soziologischen Studien bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet, sie sind das intellektuelle Königspaar dieser Disziplin. Aber dieses Königspaar wird gestürzt, stürzt sich selbst, reißt (s)ein glänzendes, vermeindlich fest gefügtes Gebäude ein, indem es alle Welt an der Nase herumführt. Der Coup, wie gesagt, ist überraschend und verblüffend.
Cronenberg spielt mit sich überlagernden und fleischlichen Motiven, es geht um Identität, Selbstenteignung, körperliche und seelische Transformation, Fleisch und Lust. Verzehrt wandelt auf dem schmalen Grat zwischen Horrorgeschichte, psychologischem Thriller, philosophischem Traktat und aktueller Gegenwartsanalyse. Verzehrt ist psychologisches Kopfkino, das mit einem aufregenden Wechselspiel der Obsessionen aufzuwarten weiß. Je weiter die Handlung voranschreitet, umso waghalsiger geraten die Wendungen und Abschweifungen, umso verblüffender und faszinierender wird das Zusammenspiel von Viszeralität und Virtualität, zumindest was die Inhalte betrifft.
Formal hält der Text (leider) nicht immer das, was er inhaltlich verspricht. Erzählung und Dialoge wirken bisweilen etwas hölzern und spröde, vieles wirkt aufgesagt und nicht lebendig gespielt und oft wird mehr berichtet als erzählt. Das hat Rückwirkungen aufs Ganze: Cronenberg behauptet, er stellt eine These, seine These über den Zustand der Welt auf, ohne sie nachhaltig und wirklich schlüssig beweisen zu können. Er liefert viele Belege, ja, aber selten Beweise; Verzehrt ist und bleibt ein Gedankenspiel, ein fesselndes wohlgemerkt für alle, die eine schöngeistige Beschäftigung mit den schmutzigen Abgründen der Seele und einen Hauch Ekel ertragen wollen. In einem Interview mit der Zeischrift film-dienst (Ausgabe 11/04) hat Cronenberg, befragt nach seiner Weltsicht, gesagt:
Die Basis ist eine existenzialistische Sicht der Realität. Das bedeutet: Es gibt keine absolute Realität. Es gibt nur ein oder zwei Tatsachen über das Leben – die eine ist der Tod, eine weitere das Leben. Dazwischen müssen wir alles selbst erfinden und hervorbringen. Die Verantwortung dafür ist ganz und gar unsere eigene – niemand nimmt uns das ab. Es gibt keine Regeln, außer die, die wir selbst erfinden. Das ist erschreckend und aufregend zugleich.
Diese Weltsicht liegt im Wesentlichen auch Verzehrt zugrunde. Wer damit leben kann und/oder wer Cronenbergs frühe Filme mag, der mag auch diesen Roman.
Aus dem Englischen von Tobias Schnettler
Gebunden, 400 Seiten
Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2014