Der Denker aus Königsberg
„Eines Tags geschah es Kant, daß er keine Worte fand. Stundenlang hielt er den Mund, und er schwieg – nicht ohne Grund. Ihm fiel absolut nichts ein, drum ließ er das Sprechen sein. Erst als man zum Essen rief, wurd‘ er wieder kreativ, und er sprach die schönen Wort: Gibt es hinterher noch Torte?“ – Während meiner Studienzeit, in der ich mich auch mit Kant beschäftigt habe (beschäftigen mußte), waren diese Zeilen aus „Besternte Ernte“ von Robert Gernhardt und F.W. Bernstein mit Abstand das Amüsanteste, was es über den Philosophen aus Königsberg zu lesen gab.
Die Lektüre der Kantschen Werke selbst, vor allem das Studium der drei großen „Kritiken“, war dagegen trocken wie Schwarzbrot. Doch um Kant kommt niemand herum, der sich mit der deutschen Philosophie- und Geistesgeschichte auseinander setzt. In den seltesten Fällen tritt dabei allerdings ein plastisches Bild der Person Immanuel Kant zu Tage. Je mehr man liest oder hört über ihn, desto mehr sieht er aus wie ein riesiger Kopf ohne Körper. Kant, das scheint irgendwie nur Geist zu sein, niemals aber Gefühl. Schon Heinrich Heine spottete: „Von diesem Mann kann man keine Lebensgeschichte zeichnen, denn Kant hat weder ein Leben noch eine Geschichte gehabt.“ In seiner Biographie des Königsberger Philosophens räumt Manfred Kühn nun mit solchen Vorurteilen endgültig auf.
Kühn gilt als anerkannter Experte in Sachen Kant und war lange Zeit Professor für Philosophie an der Purdue University in den USA, und er lehrt jetzt in Marburg. Daß der Beck-Verlag diese Biographie, die ursprünglich in englisch verfaßt wurde und schon 2001 erschienen ist, rechtzeitig zum 200. Todestag Kants im Februar 2004 auch auf deutsch herausgebracht hat, kann nicht hoch genug gelobt werden. Seit 2007 liegt bei dtv auch eine günstige Taschenbuchausgabe vor.
Aus dem Englischen übersetzt von Martin Pfeiffer
Taschenbuch, 640 Seiten
München: dtv 2007
Anders als viele seiner Vorgänger, konzentriert sich Kühn in seinem Buch nämlich nicht nur auf den bejahrten Kant und sein Alterswerk, sondern beschäftigt sich ebenso ausführlich mit den Lehr- und Studienjahren des Philosophens und den Anfängen seiner Tätigkeit als Lehrer. Kant war nicht nur ein angesehener Professor und Gelehrter, sondern spielte auch im gesellschaftlichen Leben Königsbergs eine nicht geringe Rolle. Das Klischee vom ereignislosen Gelehrtenleben mit streng durchgeordnetem Alltag stimmt hinten und vorne nicht. Kant galt, so erfahren wir, als eleganter und geistreicher Gentleman, war in vielen Kreisen ein gern gesehener Gast und ein Mann mit großem Freundeskreis. Schrullig und etwas weltfremd wurde er allenfalls in seinen letzten Lebensjahren. Am bekanntesten ist mit Sicherheit sein gespanntes Verhältnis zu seinem Diener Lampe, den er nach dessen Hinauswurf aus dem Gedächtnis löschen wollte, indem er sich auf einen Zettel neben dem Spiegel notierte: „Der Name Lampe ist zu vergessen!“
Anekdoten dieser Art gibt Kuehn zwar Raum, doch seine Hauptaugenmerk liegt darauf, zu zeigen wie Kants Philosophie geprägt wurde von wichtigen politischen und kulturellen Ereignissen seiner Zeit. So bietet Kühns Biographie ganz nebenbei interessante Einführungen zur zeitgeschichtlichen Auseinandersetzung etwa mit dem Geniekult im Sturm und Drang, den Schriften von David Hume oder Rousseau und natürlich auch mit den Ideen der Französischen Revolution. Auf welche Weise das alles Kants Werke befruchtet hat, wird von Kühn schlüssig und oft überraschend spannend ausgeführt.
Natürlich kommt bei alledem die Philosophie Immanuel Kants nicht zu kurz. Doch selbst diese von Natur aus schwierige Materie bleibt in diesem Werk immer gut lesbar. Hier wird Philosophie verständlich präsentiert, denn Kühns Stil ist durchweg sachlich und lebendig, aber zu keiner Zeit verstaubt oder trocken.
(Dieser Artikel wurde erstmals im September 2003 im alten Angebot von lustauflesen.de veröffentlicht.)