Die verlorene Zeit – Neu gesucht
Marcel Prousts Die Suche nach der verlorenen Zeit gehört zu den großen Monumenten der Weltliteratur. Doch obwohl mich gerade die großen Monunentalwerke immer magisch angezogen haben und anziehen, schlage ich um Proust bislang weite Bögen. „Man müßte es lesen, eigentlich!“ – „Vielleicht im kommenden Sommerurlaub.“ – „Wenn ich mal Rentner bin und unendlich viel Zeit habe …“ – Ausreden über Ausreden; allerdings bietet sich jetzt eine gute Gelegenheit, diesen Ausflüchten ein Ende zu bereiten. Denn knapp ein Jahrhundert nach dem Erscheinen der Originalausgabe publiziert der Reclam Verlag den Romanzyklus erneut, Band für Band in neuer Übersetzung. Auf dem Weg zu Swann liegt vor, danach werden halbjährlich ein bis zwei weitere der insgesamt 8 Bände folgen.
„Hoffentlich findet Bernd-Jürgen Fischer den Mut zu einer neuen Übertragung des ganzen Werks (wenn er ihn nicht schon hat).“ – Das schrieb 2002 die NZZ über das zweisprachige, von Fischer herausgegebene (und leider nur noch antquarisch erhältliche) Proust-Lesebuch Trois places, trois femmes, trois metiers. Fischer gilt als profunder Kenner der französichen Literatur und hat sich im Laufe der vergangenen zehn Jahre ein nicht eben bescheidenes Renommee als Übersetzer französischsprachiger Werke aufgebaut. Mithin konnte er auch der Aufgabe einer Neuübersetzung der Suche nach der verlorenen Zeit schließlich nicht mehr widerstehen, auch wenn Proust ins Deutsche zu übertragen für jeden Sprachliebhaber eine große Herausforderung darstellen dürfte. Mit viel Mut ging er das Projekt an. in einem kurzen Interview mit Fischer ist auf den Webseiten des Reclamverlages ist dazu einiges zu erfahren.
Erste Eindrücke von der Lektüre der neuen Übersetzung und eine (sehr) kurze Einführung in das Romanwerk als Ganzes bietet der folgende Beitrag aus dem Audioarchiv des Deutschlandradios:
Dieses Gespräch hat meine Neugierde geweckt und mich eingestimmt auf Fischers Übertragung des Jahrhundertromans. Der erste Band wurde angeschafft und ist inzwischen angelesen. Im Halbjahrsrhythmus geht’s nun weiter; bin gespannt, ob ich durchhalte …
Band 1: Auf dem Weg zu Swann
Neuübersetzung aus dem Französischen von Bernd-Jürgen Fischer
Gebunden, Fadenheftung, 694 Seiten
Stuttgart: Reclam (Reclam Bibliothek) 2013
Allerdings muss ich offen eingestehen: ich bin im Französischen (Honi soit qui mal y pense) nicht sehr sattelfest und kann also die Leistung Fischers wenig qualifiziert beurteilen. Der spontane Lektüreeindruck aber ist sehr positiv. Die Sprache ist elegant, zeitgemäß, ohne in Syntax und Semantik bemüht modernistisch wirken zu wollen und ist angenehm im Fluss. Ich habe durchaus das wohlige (wohlgemerkt laienhafte) Gefühl, von einem französischen Sprachwind umweht zu werden. Beim direkten Vergleich mit der bei Suhrkamp erschienen, bislang als Standard geltenden Übertragung von Eva Rechel-Mertens (später von Luzius Keller und Sibyllarevidiert) geht für mich im ersten Band und ohne daß das vollständige Werk vorliegt, Fischer als (Zwischen-)Sieger hervor. Eine Momentaufnahme, die nach weiteren Bänden überprüft werden sollte.