Georg Büchner – Beunruhigend aktuell
Am 17. Oktober 1813, also heute vor 200 Jahren, erblickte Georg Büchner im hessischen Goddau das Licht der Welt. Sein Lebensweg war kurz und bewegt; er starb mit nur 23 Jahren an den Folgen einer Typhuserkrankung, Doch der Nachwelt hinterlassen hat er ein Werk schmales Werk von großer Tiefe, das einzigartig ist innerhalb der deutschen Literatur. Für mich sind viele Texte Büchners nach wie vor hochaktuell, lesenswert und gewinnbringend. Er war Philosoph, Mediziner, Psychologe, Sozalrevolutionär, Dichter und Dramatiker. Seine Neugier auf die Welt, sein Suchen nach Zusammenhängen, sein unbestechlicher Blick auf gesellschaftliche Realitäten, seine feinnervige Sensibilität und die Wucht seiner Sprache fesseln mich immer wieder. Die nebenstehende Porträtskizze Büchners von der Hand seines Freundes Alexis Muston fängt das perfekt ein. Die wiederholte (oder vielleicht auch gänzlich neue) Lektüre der Werke Georg Büchners möchte ich nachdrücklich empfehlen, und das nicht nur aus Anlass des runden Jahrestages.
Vor allem das Dramafragment Woyzeck fesselt und fordert mich stets aufs neue. Da ist zunächst die Sprache, dieses eigentümliche, hessische Idiom, die kantig-kurzen Sätze mit all ihren kraftvollen Ellipsen. Und da ist zum zweiten der Reiz des unvollständigen. Weil Büchner keine eindeutige Reihenfolge der Szenen hinterlassen hat, gibt es vielfältige Möglichkeiten einer Lesefassung. In meiner Studienzeit, vor mehr als 30 Jahren, war das Gegenstand eines theaterwissenschaftlichen Seminars. Jede Szene wurde auf eine einzelnes Blatt kopiert und dann wurden diese Blätter immer wieder neu geordnet. Nicht jede Reihenfolge ergab dabei eine logische Handlung, doch immer ergaben sich sehr theatralische und dramatisch spannende Muster. Bis heute hat mich dieses Spiel mit stetig neu arrangierten Szenenfolgen nicht losgelassen und auch noch Jahrzehnte später entdecke ich neue Details, die mir bislang verborgen blieben. Natürlich führt der verschlungene Weg der Entstehungsgeschichte des Dramas Woyzeck über die von Clarus verfassten Gutachten im authentischen Fall Woyzeck und den Quellen zu anderen gleichgealgerten, historischen Fällen hin zu Büchners eigenen naturwissenschaftlichen und medizinischen Forschungen. Die Anatomie des Menschen war bekannt, den jungen Mediziner Büchner interessierten deshalb die unbekannten Regionen der Neurologie und Psychologie. Ein spannendes Feld … bis heute.
Die sozialen und ästhetischen Fragestellungen, die Büchner bewegten sind bis in unsere Zeit hinein gültig und längst nicht umfassend geklärt. Nicht zuletzt deshalb ist das ebenso vielschichtige wie eindringliche Werk, trotz vielfacher Betrachtung und Bewertung, noch längst nicht ausgelotet. Am besten geeignet für eine intensive Beschäftigung mit Georg Büchner halte ich derzeit die folgende Werkausgabe. Es handelt sich um eine der zuverlässigen und schön gestalteten Ausgaben des Deutschen Klassiker Verlages.

Zwei Teilbände. Text und Kommentar.
Hrsg. v. Henri Poschmann unter Mitarb. v. Rosemarie Poschmann
Geb., zusammen 2031 Seiten
Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1999
Für diese zweibändige Edition, die derzeit zu einem Sonderpreis angeboten wird, haben die Herausgeber sämtliche Texte nach den Handschriften und Erstdrucken neu ediert. Für Texterstellung und Kommentierung wurde die Forschung der letzten Jahrzehnte ausgewertet. Damit sei, so der Verlag, eine Ausgabe entstanden, die es in dieser Genauigkeit und Vollständigkeit bisher nicht gegeben habe. Wer es noch günstiger möchte: auch in der Reihe Der Deutsche Klassiker Verlag im Taschenbuch ist diese Ausgabe erhältlich.

Hrsg. v. Henri Poschmann unter Mitarb. v. Rosemarie Poschmann
Zwei broschierte Teilbände
mit zusammen 2031 Seiten
Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 2006
Für mich zählt Georg Büchner, ähnlich wie Karl Philipp Moritz, zu den in gewisser Weise tragischen, weil lange zu wenig beachteten, Persönlichkeiten der deutschen Literaturgeschichte. Zu Lebzeiten wurden seine Dramen nicht aufgeführt und seine übrigen Werke nicht in weitverbreiteten Ausgaben veröffentlicht. Erst lange nach seinem viel zu frühen Tod wurde er wiederentdeckt. Das von mir so besonders geschätzte Dramenfragment Woyzeck sogar erst so richtig durch die Bearbeitung als Oper durch Alban Berg unter dem Titel Wozzeck (Uraufführung 1925 in Berlin). Falls diese Zeilen jemand liest, der zu den vielen Schülergenerationen gehört, die sich im Deutschunterricht von Lenz oder Leonce und Lena eher gequält als unterhalten gefühlt haben: nur Mut – versucht es noch einmal mit Büchner, denn es lohnt sich. Egal ob man ihn als Sozialrevolutionär und als Jakobiner sieht, als Kontrastfigur zwischen Nüchternheit und Pathos, egal ob man seinen Nihilismus und Pessimismus herausgestellt sieht oder seine religiösen und metaphysischen Dimensionen.
Büchner ist und bleibt in seinen Dichtungen, Schriften und Briefe beunruhigend aktuell.
2. September 2019 @ 11:42
Einen literarischen Text sollte man in erster Linie aus diesem selbst heraus verstehen. Das macht man im Allgemeinen auch so, Ausnahme Büchner. Warum? Weil man nicht durchblickt. Maries Satz „Das Kind gibt mir einen Stich ins Herz“ liefert den Schlüssel zu Büchners Dramenfragment. Klar handelt es sich dabei um eine Metapher seitens der Mutter mit dem Kind auf dem Arm. Aber eben nicht nur, denn das Kind kauft unmittelbar vorher ein Messer, eigentlich völlig überflüssig, weil Woyzeck in der 1. Szene Stöcke geschnitten hat. Zudem verlangt die Stimme aus dem Boden besagte Mutter zu erstechen. Hier wird daher eine Familientragödie abgehandelt, für die es viele weitere Indizien gibt. Zum Beispiel dass das weibliche Opfer ursprünglich Margreth Woyzeck heißt, während der Familienname des Täters ausgespart wird, er heißt nur Louis. Und einen Doktor sowie einen Hauptmann, also auch Erbsen, Rasieren usw. sucht man in dem 1. Handschriftenentwurf vergeblich … Freilich passt die Mordhandlung mit den rituellen Aspekten, den Liedern und der Mächenparabel auch überhaupt nicht zu einem Sozialdrama, als das man den Woyzeck unbedingt missverstehen will. Bei Büchner geht es nebenbei bemerkt auch in Dantons Tod um sexuellen Missbrauch, der sowohl in Goethes Erlkönig eine Rolle spielt wie auch der Kindesmord im Faust. Die Jahrmarktsszenen im Woyzeck handeln versteckte Zynismen über die damals wie heute gängige Pädophilie ab. (Jüngst „Epstein“ in den USA, ein paar Jahre vorher „Savile“ in England und hier bei uns ….)