Das Krokodil – Tausche den düsteren Fjodor gegen den lustigen Fido
Die Seele eines Russen ist düster und schwermütig, so lautet ein unausrottbares (Vor)Urteil. Und wenn es gilt den wahren Russen in der russischen Literatur zu benennen, wird ohne zu zögern meist der Name Fjodor Michailowitsch Dostojewski in den Raum geworfen. Allein die Titel seiner großen Romane lassen dies zwingend annehmen: Der Idiot, Verbrechen ud Strafe, Der Spieler, Die Dämonen. Dostojewski, das ist der ewige Gottsucher der verzweifelte Mystiker, der Schwer- und Schwarzdenker. Das berühmte Porträt von Wassili Perow unterstreicht dies Dostojewski-Bild nachhaltig. In der breiten Masse und auch bei mir, ich gebe es unumwunden zu, verhallen erfolglos vergangene und gegenwärtige Mahnungen, dieses festhaftende Etikett ein für alle mal abzukratzen und die heitere Seite Dostojewskis wahrzunehmen.
Und noch ein Bekenntnis: viel gelesen habe ich von Dostojewski noch nicht. Hat mich die vermeintliche Düsternis abgeschreckt? Ich kann es nicht sagen. Dabei hat vor mehr als siebzig Jahren schon Thomas Mann vom Humoristen Dostojewski gesprochen, dessen Romane »eigentlich evident und unmissverständlich Leitparadigmata humoristisch-realistischer Epik vorstellen, breitflächige Muster von Humor kraft ihrer Phantastik, ihres Mutwillens, ihrer Lustigkeit des Geistes«. Aber auch Thomas Mann hat den dunklen Dostojewski nur mäßig aufhellen können. Das schöpfe ich übrigens nicht aus tiefster Kenntnis des Mannschen Werkes, sondern lasse es mir von Eckhard Henscheid in seinem kleinen Nachwort eröffnen; ein Mann übrigens, der Humor in allen Schattierungen beherrscht, von krachledern bis feinst-subtil.
Wo die Komik lauert
Das vorliegende Bändchen ist gewissermaßen ein erneuter Anlauf, den »lustigen« Dostojewski vorzustellen, den Dostojewski, der ausgehend vom unverkennbar humoristischen Vorbild und Lehrer Gogol seine ganz eigene Form der literarischen Auseinandersetzung mit dem komplexen und komplizierten »System Leben« entwickelt hat. Und zur Lebensbewältigung gehört ja zwingend auch Humor. In Das Krokodil sind sechs Erzählungen versammelt, kleinere Stücke also, denen von je her entschiedener zugetraut wird, leichter und beschwingter, ergo humoristischer, sein zu dürfen. Sie können und sollen folgerichtig als eine Art Betriebsanleitung verstanden werden, den heiteren Dostojewski auch in seinen dickleibigen Großromanen zu suchen.
Gleich die Auftaktgeschichte zeigt, mit welchen Techniken Dostojewski Humor erzeugt. Im Roman in Neun Briefen versuchen sich zwei gewiefte Halunken gegenseitig übers Messer zu balbieren. Dass es eigentlich nur um Geld geht, ist nicht sofort zu durchschauen, denn ihre wahren Absichten verstecken die beiden Briefeschreiber hinter komplizierten Floskeln. Die Form des Briefromans, in der ja dem Leser notgedrungen Informationen vorenthalten und Leerstellen auch nicht durch die ordnende Hand eines Erzählers ausgefüllt werden, tut ihr übriges. Das Krokodil zieht seine Kraft aus der absurden Ausgangssituation eines Mannes, der von einem Reptil verschluckt wird und es sich im Bauch des Ungetüms wohlig einrichtet. Am Ende entpuppt sich die Geschichte auch als Satire auf den Wahnsinn ausufernder Bürokratie, die einer komplexer werdenden Welt nicht mehr gewachsen ist. Der kleine Held wiederum kontrastiert die Erinnerungen eines pubertierenden Knabens mit den reiferen(?) Einsichten eben dieses Knabens als erwachsenem Mann. Hier erwächst das Humoristische aus den unterschiedlichen Perspektiven und ihrer Reflexion. Eine Ehegeschichte wird in Die Sanftmütige erzählt., in der die titelgebende Dame sich ins genaue Gegenteil verkehrt hat. Kalamitäten aller Art und natürlich Streit um Geld, Geld, Geld wirbeln hier fröhlich umeinander her. Ganz ähnlich gelagert ist die Hinwendung zum Humor bis hin zur Groteske auch in den anderen Geschichten.
Eine neue deutsche Stimme für Dostojewski
Etwa 30 Erzählungen, Kurzromane, Geschichten dieser Art hat Dostojewski hinterlassen. Sechs, also gut ein Fünftel, sind hier erneut zu besichtigen. Die kleinere Form, das wird schnell offensichtlich, diente dem Schriftsteller in erster Linie als Experimentierfeld und als Labor für ungewöhnliche Erzählsituationen und -techniken. Nicht alles ist ausgereift, manches erzähltechnisch nicht konsequent durchdacht und schlüssig konstruiert. Die Anmutung der Skizze dominiert, und wenn einige der Erzählungen als Anlauf für größer Projekte dienen sollten, so hat sie Dostojewski später verworfen. Die angeeigneten humoristischen Techniken aber hat er verfeinert und auch in seine Riesenromane hinübergerettet. Wer genau hinschaut, findet sie dort. Einen Versuch wäre es wert, diese These zu überprüfen, oder?!
Christiane Pöhlmann hat die sechs Erzählungen in Das Krokodil alle neu übersetzt, getreu der Maxime der Manesse Bibliothek der Weltlitertaur, große Texte in bestmöglicher und zeitgemäßer Übertragung vorzulegen. Die Qualität der Arbeit von Christiane Pöhlmann kann ich mangels Russichkentnisse nur indirekt beurteilen. Mir fällt auf, dass die Texte frisch und temporeich daherkommen, dass aber auch Brüche, Verkürzungen, Wiederholungen und Ungenauigkeiten stehen geblieben sind. Pöhlmann hat sie nach eigenem Bekunden bewußt aus dem Original herübergerettet, darauf verzichtet, zu glätten zugunsten eines »gehobenen Stils«, der dem Russen nicht gerecht würde. Genauer nachzulesen ist das in einem längeren Text, in dem Christiane Pöhlmann den Ansatz ihrer Übersetzung erläutert: Düsternis und Schwermut? Über die komischen Seiten von Fjodor Dostojewski.
Aus der Reihe getanzt
Seit über 70 Jahren setzt die Reihe Manesse Bibliothek der Weltliteratur erfolgreich Maßstäbe. Neue, moderne Übersetzungen bilden die eine Säule, die das Unternehmen erfolgreich trägt und stützt, die andere ist die gediegene und hochwertige Ausstattung der Bände und der hohe Wiedererkennungswert durch eine einheitliche durchgehende Optik. Aus dieser Reihe tanzt Das Krokodil heraus. Augenzwinkernd wurde der Wiederentdeckung des lustigen Dostojewski Rechnung getragen und der Band in dunkles Krokolederimitat gebunden (aus Plastik: No Animal was harmed) und mit giftgrün-aggressivem Schriftzug versehen. Puristen und verschworene Anhänger der Manesse Bibliothek mögen das als Frevel geißeln, mir hat es gefallen. Denn schließlich war es nicht zuletzt diese frech-frische Anmutung die mich zum Lesen verführt und mir so einen humoristischen, bissigen und alle Vorurteile widerlegenden Dostojewski nahegebracht hat.
Ich kann nur raten: vergesst den düsteren Fjodor Michailowitsch und gebt dem heiteren Fido eine Chance!
Erzählungen – Aus dem Russischen von Christiane Pöhlmann
Mit einem Nachwort von Eckhard Henscheid
Gebunden (in Krokolederimitat), 448 Seiten
Zürich: Manesse Verlag 2015
(Quelle: Abbildung des Gemäldes von Wassili Perow – Wikimedia Commons)