merk=würdig (VI) – Es war, als hätt’ der Himmel / Die Erde still geküßt
Dichters Handschrift ist mein Spleen. Sobald sich die Gelegenheit ergibt, ein Handschriftenfaksimilie zu ergattern, greife ich reflexartig zu. Das Wort Faksimile leitet sich aus dem Lateinischen ab; fac simile = mach ähnlich. Faksimiles fungieren als Surrogat für den kleinen Mann, dem der Zugang zum Sammelgebiet originaler Autographen aufgrund finanzieller Beschränkungen verwehrt bleibt. Über Umwege besitzt der Begriff Faksimile somit auch eine lose Verbindung zum »Fake«, der Fälschung, dem Schwindel. Denn es beschwindelt sich selbst ein wenig, wer Faksimiles liebt und hortet. Aber das macht nichts. Auch eine Reproduktion strömt etwas von der Aura des raren Originales aus. Deshalb liebe ich faksimilierte Fundstücke über alles.
Jüngst durfte ich meiner bescheidenen Sammlung von »Ähnlichkeiten« eine Handschrift Joseph von Eichendorffs hinzufügen. Es handelt sich um das Autograph zum Gedicht Mondnacht, herausgegeben von der Staatsbibliothek zu Berlin in der Publikationsreihe Berliner Faksimile.
Warum erzähle ich das? Nun, zum einen gehört dieses Gedicht zu den schönsten Beispielen romantischer Dichtung und zum anderen läßt sich an diesem Blatt musterhaft studieren, wie der Lyriker Eichendorff gearbeitet hat. Das Autograph, die einzige überlieferte Handschrift zu Mondnacht, ist ein exklusiver Blick in des Dichters Werkstatt. Mondnacht teilt sich das Blatt mit zwei weiteren Gedichtentwürfen (An meinen Bruder und Der Glücksritter). Wer das Blatt genau entziffert, bemerkt wie unsicher Eichendorff bei der Reihenfolge der Strophen war. Oben rechts findet sich (neben dem erst nachträglich hinzugefügten Titel) zur ersten Strophe die Bemerkung »Vielleicht: 2«, gefolgt vom begeistert notierten »Ja! Ja!«. Zögern und Zaudern auch bei Strophe zwei. Zunächst stand dort die Ziffer 1, dann die 3. Mit dickerer Feder, also nachweislich zu einem späteren Zeitpunkt, wurde schließlich die »2« eingezeichnet. Strophe drei wiederum wurde mit sicherer Hand und ohne erkennbare größere Korrekturen darunter geschrieben, vielleicht ein Indiz dafür, dass dieses Blatt nicht der erste Entwurf zu Mondnacht war.
Mondnacht
Es war, als hätt’ der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt‘.Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis’ die Wälder,
So sternklar war die Nacht.Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.
Ein schönes Blatt, ja, aber es fragt gleichzeitig: Sind die Naturlyrik der Romantik im allgemeinen und Joseph von Eichendorff im besonderen noch »cool«? Im lyrischen Gedächtnis unserer Zeit sind sie kaum noch verankert und besitzen längst nicht mehr die Bedeutung früherer Jahrzehnte. Die »Kids von heute«, um hier mal provokant steil zu gehen, kennen gebundene Sprache allenfalls noch von HipHop, Rap und gereimtem Comedy-Klamauk, die Schönheit und Klarheit altvorderer Gedichte bleibt ihnen verborgen. Vielleicht auch nur, weil sie die Texte nie gelesen haben, weil sie sie schlicht nicht (mehr) kennen.
Selbstverständlich vertiefe auch ich mich nicht ständig im Eichendorff-Brevier, aber einzelne ältere Gedichte (und nicht nur seine) lese ich doch von Zeit zu Zeit sehr gerne. Diese vollkommenen Solitäre gestatten mir kleine Fluchten, bringen Ruhe und lenken die Gedanken in neue Bahnen. Lyrik erfrischt, auch wenn sie alt ist. Und Mondnacht ist, wie Thomas Mann treffend bemerkte, wahrlich eine »Perle der Perlen«. Innen und Außen verschmelzen für einen Moment in tiefer Ruhe und Innigkeit. Und der Blick wird zusätzlich geschärft, wenn er auf ein Autograph wie dieses fällt. In der Konzentration auf die Handschrift des Dichters werden die Gefahren des schnellen und flatterhaften Drüberweglesens minimiert.
Eichendorff sagte mir, Robert habe seinen Liedern erst Leben gegeben, ich erwiderte aber, daß seine Gedichte erst der Komposition Leben gegeben.
Ein Bemerkung Clara Schumanns, die unabhängig von der in der damaligen Zeit üblichen höflich-charmanten Ehrbezeigung verdeutlicht, wie kongenial sich Robert Schumann und Joseph von Eichendorff ergänzt haben. Aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sind 41 Vertonungen zu Mondnacht überliefert, wirklich überlebt hat nur die von Schumann. Insgesamt hat Schumann 16 Gedichte von Eichendorff vertont. Beide, der Dichter und der Komponist, schätzen die Arbeit des jeweils anderen hoch und sie sind sich 1847 auch persönlich begegnet.
Robert Schumann, Mondnacht aus dem Liederkreis op.39 (Text: Joseph von Eichendorff). Es singt Dietrich Fischer Dieskau begleitet von Wolfgang Sawallisch am Klavier (1974).
Das Faksimilie ist zusammen mit einem Erläuterungsblatt erhältlich über die Staatsbibliothek Berlin (hier zusätzliche Infos).