Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
Passend zur kleinen Notiz mit dem Link zur Geschichte des Verlages C.H. Beck (s.u.) hier eines der schönen Bücher dieses Verlages. Es ist eines jener Bücher, das ich immer wieder zur Hand nehme, um darin zu schmökern. „Die Geschichte der Welt in 100 Objekten“ aus der Feder des Direktors des „British Museum“ Neil MacGregor ist es eines der außergewöhnlichsten historischen Bücher der letzten Jahre und hat durchaus das Zeug, zu einem Generationenklassiker zu werden, wie etwa „Götter, Gräber und Gelehrte“.
The British Museum“ – eine Schatzkammer, in der Millionen Objekte lagern. Sie geben Auskunft über die Geschichte des Menschen von Anbeginn bis heute. Doch allzu oft behalten diese Dinge ihre Geheimnisse für sich, wenn sie einfach nur in einer Vitrine liegen. Neil MacGregor wollte das ändern. Der Direktor des Museums startete eine Radioserie bei der BBC. Dort beweies er zusammen mit seinen Kollegen, wie spannend es ist, wenn die Geheimnisse der Objekte gelüftet werden und wie viel die unscheinbaren Dinge zu erzählen haben. Aus der enorm erfolgreichen Radioserie wurde dann zwangsläufig ein Buch, „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“.
MacGregor ist ein Lesebuch der Extraklasse gelungen. Die Artikel zu den einzelnen Objekten sind jeweils nur wenige Seiten lang und in ausserordentlicher Qualität bebildert. Es steht jedem frei, dieses Museum zwischen Buchdeckeln in einem Durchgang zur erkunden oder einfach hin und wieder vorbeizuschauen, um ein neues Objekt zu entdecken. Jedes Blättern in diesem Band wird automatisch zur spannenden Zeitreise.
Es wird ein Bogen gespannt von kleinen steinzeitlichen Werkzeugen aus Feuerstein über eine Buddhafigur aus Pakistan und mittelalterlichen Kochtöpfen bis hin zur Kreditkarte und einer kleinen Solarlampe unserer Tage. An ihr übrigens wird die Geschichte der vielen Menschen auf der Erde erzählt, die im 21. Jahrhundert immer noch ohne Stromnetz auskommen müssen. Weil Licht fehlt, fehlt auch die Möglichkeit am Abend nach der Arbeit zu lesen oder zu lernen, es fehlt also der Zugang zu Bildung. Die auf den ersten Blick unbedeutende Lampe aus Plastik führt uns also geo-politische und soziale Zusammenhänge vor, die wir allzu gerne verdrängen.

Aus dem Englischen von Waltraud Götting, Andreas Wirthensohn und Annabel Zettel
Gebunden, 816 Seiten, mit 159 Abbildungen und 4 Karten
München: C.H. Beck 2011

Niemlas belehrend oder moralisierend, sind die Texte in eingängigem Stil geschrieben und höchst informativ. Allen gemeinsam ist die ausführliche Beschreibung der äusseren Erscheinung des jeweiligen Objektes und seiner Herstellung, so weit bekannt. Bereits hier werden ganz nebenbei viele kulturhistorische Erkenntnisse ausgebreitet. Für MacGregor sind die Objekte Ausgangspunkte für genaue Analysen der jeweiligen politisch-historischen Gegebenheiten und der Alltagskultur. Geschichtsschreibung ist hier nicht abgehoben, sondern nah am Menschen. Und dem Menschen nahegebracht wird sie in einem Plauderton, wie er am heimischen Küchentisch herrscht, ohne dabei wissenschaftliche Akuratesse einzubüßen; dafür bürgt MacGregor mit seinem hervorragendenem Ruf als großer Kulturhistoriker.
Ein schönes Beispiel dafür ist Objekt Nummer 80: die spanische Acht-Reales-Münze. Sie ist bekannt aus „Fluch der Karibik“ und der „Schatzinsel“ von Robert Louis Stephenson. Beim Klang ihres Namens steigen Bilder von Piraten, unermesslichen Schätzen, geplünderten Häfen und versunkenen Schiffen auf. Doch tatsächlich war die Acht-Reales-Münze das erste Weltgeld, sie stand am Anfang globalisierter Weltmärkte und kontinente überspannender Geldströme. Und sie ist fest verbunden mit dem Leiden der Zwangsarbeiter und Sklaven in den Goldminen von Potosi (im heutigen Bolivien). Je mehr Gold die spanischen Invasoren anhäuften, desto mehr indigene Völker und später afrikanische Sklaven wurden zur Arbeit in den gefährlichen Minen und mit dem todbringenden Quecksilber, das für die Goldgewinnung nötig ist, gezwungen. Die Münze mit ihren vier Zentimetern Durchmesser hat auf der einen Seite für riesigen Reichtum gesorgt und auf der anderen für Armut, Krankheit und Tod.
Nicht die einfache Chronologie der Menschheitsgeschichte ist MacGregor wichtig, sondern der Zusammenhang oder die Trennung, je nach dem. Er zeigt, wie künstlerische Objekte, Herrschaftssymbole, geistesgeschichtlche Relikte, aber auch vermeindlicher Alltagsplunder die Vorstellungskraft anregen können und Brücken schlagen, über Kontinente und Kulturen hinweg. Nicht selten bezieht MacGregor dabei neueste Erkenntnisse der Forschung ein und zeigt wie Geschichte als Ganzes und die Dinge als Einzelnes ständiger Neubewertung unterworfen sind, die zwar oft nur Nuancen betrifft, manchmal aber eben doch ganz neue Erkenntnisse beschert.
Wenn das „British Museum“ mit seinen Millionen von Objekten die große Schatzkammer ist, dann ist dieses Buch mit seinen 100 Objekten die kleine. Hinter jedem der 100 Dinge stecken mindestens auch neue 100 Einsichten. Es macht viel Spaß, ihnen beim Lesen auf die Spur zu kommen.