Zum Karfreitag – I.N.R.I. von Bettina Rheims noch einmal betrachtet
Heute hole ich mal wieder ein älteres Buch aus dem Regal. Der Bildband I.N.R.I. von Bettina Rheims und Serge Bramly sorgte zur Jahrtausendwende für einen gehörigen Skandal. Die Fotografin hat hier die Leidensgeschichte Christi in ihrer ganz eigenen Handschrift umgesetzt. Ästhetisch und inhaltlich ein Wagnis. Auch heute, mehr als ein Jahrzehnt später, faszinieren diese Bilder.
Bettina Rheims hatte sich in den 90er JAhren des vorigen Jahrhunderts (klingt immer noch komisch …) einen Namen als führende und innovative Modefotografinnen einen Namen gemacht. Für viele Coutouriers schoß sie exclusiv die Bilder neuer Kollektionen und viele Modezeitschriften druckten regelmäßig ihre Fotos ab. Doch in den Jahren 1997 bis 1998 drehte sie dem Modezirkus mit all seinen Beschränkungen und Grenzen den Rücken zu, um eigene Projekte zu verwirklichen. Groß angelegte Fotoarbeiten, für das sie keinen Auftrag besaß. Eines der ersten war damals „I.N.R.I.“.
Die Ausstellung und der Fotoband „I.N.R.I.“ war ein Riesenereignis und sorgte in Frankreich für einen handfesten Skandal. Vor allemunter katholischen Gläubigen lösten Rheims und Bramley wahre Proteststürme aus. Mehrere Gerichtsverfahren wegen Blasphemie und Verunglimpfung der Kirche waren die Folge.
Dabei hat Bettina Rheims, zusammen mit dem Schriftsteller Serge Bramly, nur versucht, etwas für das aufdämmernde 21. Jahrhundert zu machen, was in der Renaissance üblich war. Die Heilsgeschichte der Evangelien sollte in Bilder der Gegenwart umgesetzt werden. Die Gestalten der Evangelien werden von Models, Schauspielern und unbekannten Darstellern genauso verkörpert. Jesus ist auch eine Frau und ein Schwarzer, die Heilsgeschichte spielt ebenso auf Mallorca, wie in einem verlassenen Krankenhaus bei Paris oder in tristen Vorortsiedlungen. Die Bildästhetik orientiert sich gleichermaßen an historischen Vorbildern wie an der Optik zeitgenössischer Mode- und Werbefotografie. Alle dargestellten Personen werden immer von anderen Modellen verkörpert. Somit steht jedes Bild für sich alleine und ist doch erst in der Abfolge aller Bilder wirklich verständlich.
Texte aus dem Französischen übersetzt von Anette Lallemand
Gebunden, 220 Seiten,
mit 7 Klapptafeln und 130 farbigen Abbildungen
München: Gina Kehayoff Verlag 1998
Immer wieder haben Rheims und Bramly betont, daß sie das Leben und Leiden Christi nicht verunglimpfen oder herabsetzen wollten, im Gegenteil, es sei ihnen nur darum gegangen, die Heilsgeschichte in die Bildsprache der heutigen Zeit hinüber zu holen, sie zu retten für die Konsum- und Spaßgeneration der späten 90er Jahre. Dazu hat Serge Bramly Texte beigesteuert, die das Evangelium nach bzw. neu erzählen.
Rheims und Bramly haben ungewöhnliche Lösungen gefunden, sowohl in der Bildsprache als auch bei Motiv- und Ortswahl. Und doch hinterläßt „I.N.R.I.“ beim Betrachten auch zwiespältige Gefühle. Viele Bilder sind enorm stark, einige dagegen bloß kitschig oder langweilig. Ob sie dem hoch gesetzten Anspuch wirklich gerecht wurden und werden, heutigen Generationen, speziell den an Werbe- und Modeästhetik geschulten, die Lebensgeschichte Christi näher zu bringen, kann durchaus bezweifelt werden.
Dennoch: „I.N.R.I.“ von Bettina Rheims ist immer noch eine starke Fotoarbeit und vermag auch heute noch zu begeistern.
(Am Karfreitag 2013 neu veröffentlichter und überarbeiteter Artikel aus dem Jahr 2000)