Pfaueninsel – Nachdenken über Arkadien
Am äußersten Rande Berlins, im Südwesten hoch über der Havel in Nikolskoe steht die von Schinkel entworfene Kirche St. Peter und Paul. In ihrem Schatten befindet sich ein kleiner Friedhof, auf dem einst die Bewohner der Pfaueninsel, jenes Eilandes in der Havel unterhalb der Kirche, ihre letzten Ruhestätten gefunden haben. Viele der alten Gräber sind überwuchert, die Grabsteine kaum zu entziffern, auf zwei von ihnen allerdings lassen sich die Namen und Daten leicht ablesen: »Königlicher Hofgärtner Gustav Adolph Fintelmann« und »Schlossfräulein Jungfer Marie Strakow«, beider Lebensspanne deckt sich mit drei Vierteln des 19. Jahrhunderts und Thomas Hettche hat sie zu Hauptpersonen seines Romans Pfaueninsel gemacht.
Das Buch ist eines der Besten, die ich im vergangenen Jahr gelesen habe. Lange habe ich gezögert, über dieses Buch zu schreiben, zu groß war die Gefahr einer bloß schwärmerischen Besprechung und viele andere haben das Buch lange vor mir zurecht hoch gelobt. Pfaueninsel hat ist einer jener Romane, die zunächst etwas Anlauf benötigen, dann aber den Leser unentrinnbar in Bann schlagen. Der Text wirkt wie sein Gegenstand, die Pfaueninsel selbst, merkwürdig aus der Zeit gefallen, voller Skurrilitäten und Anachronica, so nah und doch entrückt.
Für die preußischen Könige ist das Eiland in der Havel zunächst Rückzugsort und Traumland, ein kleines Arkadien, das mit der Kutsche schnell zu erreichen war. Doch im Laufe der Zeit wird die Insel geformt und überformt, naturalisiert und denaturalisiert, sie wird Moden unterworfen und gequält. Eine der treibenden Kräfte dabei ist Gustav Adolf Fintelmann. Anders als sein Vater, sein Vorgänger im Amt, will er nicht behutsam bewahren, sondern gestalten. Er greift ein in die Natur, experimentiert bereits als Jugendlicher mit Züchtungen und Kreuzungen, geht beim großen Lenné in die Lehre und wirkt mit an dessen gewaltiger und gewalttätiger Neugestaltung des Eilandes. Wille und Vorstellung formen die Natur, der Mensch setzt sich als Schöpfer an die Stelle Gottes. Das fruchtbare Eiland wird im Verlauf des Jahrhunderts zum Rummelplatz königlicher Eitelkeiten, zur Attraktion der Massen, zum Kuriositätenkabinett und verliert alle Unschuld und allen Frieden.
Ebenso historisch verbürgt wie Gustav Fintelmann ist Marie Dorothea Strakon. Als Schloßfräulein ist die kleinwüchsige Frau zusammen mit ihrem ebenfalls kleinwüchsigen Bruder zum Amusement der Könige auf die Insel geholt worden. Über ihr Leben ist nicht mehr bekannt, als die Eckdaten von Geburt und Tod. Thomas Hettche dichtet ihr eine Biographie. »Monster!«, stößt Königin Luise hervor, als sie der kleinwüchsigen Marie zum erstenmal auf der Pfaueninsel begegnet. Diese Beschimpfung liegt als Fluch auf Maries Leben, und erst als Greisin vermag sie ihn zu besiegen, am Ende ihres Lebens auf der Pfaueninsel, wo sie Könige kommen und gehen sieht, wo sie erlebt, wie exotische Menagerien aufleben und aussterben, Palmenhäuser in den Himmel wachsen und im Erdboden versinken. Marie stemmt sich gegen die Willkür der Menschen, gegen die Enttäuschungen in Liebe und Leben und gegen die Widrigkeiten der Zeitläufte, wie sich die Natur allem Streben widersetzt, gebändigt und geformt zu werden.
Marie erkannte die Stille ihrer Kindheit wieder, auch die Leere auf den Wegen, als die Besucher immer mehr ausblieben, dann die Weise, wie sich die Natur mit großer Selbstverständlichkeit zu dem zurückverwandelte, was sie einst gewesen war. Alles Künstliche verschwand in dem Moment, in dem der Wille verschwand, es zu erhalten, und was eben noch modern gewesen war und Versprechen einer neuen Zeit, sank lautlos und kraftlos als Mode zurück ins Vergessen. Das Vergehen der Zeit, dachte sie, war ja vor allem ein Vergehen der Zukunft und ein Sieg der Vergangenheit.
Beide, Marie und die Natur, so die tiefe Erkenntnis, sind Spielbälle im Wettstreit der Philosophien, Moden und Lebensentwürfe, und beide finden am Ende nur deshalb Ruhe, weil sie alle Hüllen und künstlichen Umfriedungen sprengen, weil sie in der Lage sind, die wahre Ruhe in sich selbst zu finden, während die Zeit sie unaufhaltsam weiterträgt.
»Aber was ist Zeit? Vielleicht ist sie ja nur ein Schleier, der alles bedeckt«, sagte Schlemihl, »eine Färbung der Dinge, die alles durchdringt, von dem man sagt, das es einmal war. Und in Wirklichkeit ist alles noch da, nur nicht im Jetzt. Und werden immer da sein. Die Orte sind es, die länger bleiben als wir.«
Ja, historische und literarische Figuren treten hier gleichberechtigt nebeneinander auf, denn Pfaueninsel ist ein Roman voller Wunder. Thomas Hettche jongliert mit Geschichte und Geschichten und stattet seinen Erzähler mit einer nuancenreichen sprachlichen Kunstfertigkeit aus, die bruchlos zwischen historischem und modernem Ton changiert, und er läßt ihn häufig die Perspektive wechseln, um die Nähe Maries zu verlassen und über Zeit und Schönheit zu sinnieren. Dieser Roman ist übervoll mit geistreichen Beobachtungen und Überlegungen und bleibt dabei doch so leicht und luftig, dass er förmlich schwebt und der Leser mit ihm.
Und die Pfaueninsel? Sie hat alles klaglos hingenommen und überlebt, was ihr widerfahren ist und immer noch widerfährt, und wenn ich heute nach der kurzen Überfahrt mit der Fähre die Insel betrete, verschieben sich für mich Zeit und Raum in noch stärkerem Maße als sie es getan haben, bevor ich Pfaueninsel gelesen habe. Die Pfaueninsel liegt mitten in Berlin und ist gleichzeitig sehr weit von der Stadt entfernt. Sie ist ein magischer Ort. Viele Berliner soll es geben, die noch niemals dort waren.
Diese Insel, die auf Karten einem Fisch gleicht, einem flossenschlagenden, sich wild aufbäumenden Wal, aus welchen Gründen auch immer an gerade dieser Stelle der hier besonders träge mäandernden, sich weitenden und wieder verengenden Havel gestrandet, an der man wohl vergißt, daß jeder Fluß eine Quelle hat und eine Mündung. Als ob die Zeit selbst hier ihre Richtung verlöre, umstrudelt sie die Pfaueninsel, es vermischen Vergangenheit und Zukunft sich hier auf besondere Weise.
Thomas Hettche:
Pfaueninsel
Roman
Gebunden, 343 Seiten
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014