7 Unschärfen – Über die Kritik an der Kritik und das Bloggen
Diesen Beitrag habe ich dreimal in die Tonne gekloppt; er wollte beim Verfassen nie die richtige Balance finden, kippte beharrlich in die falsche Richtung und schweifte wortreich ab. Der vierte Versuch ist knapper geraten und endete, indem er sich von der ursprünglichen Intention mehr und mehr verabschiedete, als (vorläufiges) kleines Manifest meines Selbstverständnisses als Blogger. Es müsste streng genommen vor fremden Blicken verborgen als stille Mahnung am Pinnbrett über dem Schreibplatz hängen, doch weil der Text meinem Publikum zur Orientierung dienen darf und gleichzeitig mir selbst als Ansporn und Maßstab gelten soll, veröffentliche ich ihn.
Wo ich begann und wie ich mich dann verirrte
Ausgangspunkt war die von Jörg Sundermeier (Verleger des Berliner Verbrecher Verlag) im Sonntagsgespräch mit dem Buchmarkt formulierte Kritik an der Literaturkritk. Ihr mangele es an Haltung und Tiefe, so der Hauptvorwurf, sie handele willkürlich und ließe die Verlage allein zurück. Die Blogumschau hat die anschließende Debatte zusammengefasst; ebenso Jan Drees und der von mir geschätzte und gerne gelesene Blog brasch & buch.
Auch zahlreiche Buch- und Literaturblogs meldeten sich zu Wort und sondierten kritisch ihren Anteil am und ihren Stellenwert im literaturkritischen und Meinungen verbreitenden Betrieb. Ich hangelte mich durch weitere Links und stieß auf eine ähnlich kontrovers geführte Debatte, die vor gut einem dreiviertel Jahr just die Rolle von Blogs als Meinungsmacher im Literaturbetrieb zum Thema hatte. (Auch hier eine Zusammenfassung und weiterführende Links in der Blogumschau.) Einzelne Aspekte beider Diskussionen haben sich (beim Schreiben über mehrere Tage hinweg) vermischt, neue Richtungen aufgenommen, um in den folgenden thesenartigen Stichpunkten zu münden.
7 Gedanken – Wie ich lustauflesen.de sehe
1.) Als Blogger darf ich hinterherhinken. Die zurückliegende Diskussion um Sundermeiers Kritik an der Kritik haben viele bereits abgehakt und vergessen, noch weiter zurück liegt die Debatte um den Stellenwert der Buchblogger. Im schnelllebigen Internet sind 8 Monate gleichbedeutend mit Äonen und trotzdem (oder gerade deswegen) erlaube ich mir, längst Abgehaktes und Vergessenes erneut aufzunehmen. Ich habe alle Freiheiten; und zurückzugreifen und zu wiederholen schließt nicht aus, vermeintlich abgehakte Themen (und Bücher) doch noch weiterzuentwickeln und neue Gedanken hinzuzufügen.
2.) Die Informationsexplosion durch das Internet (Blogs, Soziale Netzwerke, Foren, Plattformen, Onlineangebote von Printmedien oder öffentlichen und privaten Rundfunkanbietern) wird wahlweise wegen vermeintlicher Verflachung und aufmerksamkeitshemmender Reizüberflutung angeprangert oder, ob der pluralistischen Verbreiterung der Basis zur Meinungsbildung, begrüßt. Als Blogger nutze ich die Kräfte dieser Explosion und bin gleichzeitg ein Teil der sie antreibenden Sprengladung. Bloggen ist ein selbstreferentielles Spiel. Eine Festlegung auf einen der extremen Pole muss nicht erfolgen, Blogger und ihre Leser pendeln frei zwischen den Polen Zustimmung und Ablehnung. Bloggen ist ständige Bewegung und Bewegung nimmt Energie auf und setzt Energie frei.
3.) Verärgert haben Sundermeier unter anderem mangelnde Vielfalt bei den rezensierten Titeln, zu oberflächliche Beschäftigung mit den ausgewählten Werken und ein mehr mit sich selbst als mit Literatur beschäftigtes Kumpelsystem. Geschuldet ist dies einem ständigen Aktualitäts- und Konkurrenzdruck; den darf ich ignorieren. Zeitungen, das fällt auf, besprechen zeitnah zum Erscheinen häufig die gleichen Bücher. Als Blogger kann ich mich da einreihen (wie jüngst bei Houellebecq geschehen), muss es aber nicht. (Eggers zum Beispiel habe ich ausgelassen und hunderten Rezensionen nicht noch eine weitere hinzugefügt). Ich habe völlige Freiheit, ich unterliege keiner Quote, keiner Mindestverkaufszahl. Ich kann ein Buch vollständig ignorieren oder es erst nach Monaten (und intensiver Auseinandersetzung) empfehlen oder von ihm abraten, Anders als das Feuilleton tages- oder wochenaktueller Printmedien verfüge ich über uneingeschränkte Wahl. Gegenstand meiner Beiträge können wahlweise kanonisierte oder vergessene Klassiker, Neuerscheinungen oder Titel aus der Backlist, Erst- oder Relektüren, Bücher großer oder kleiner Verlage sein. Dieser von mir getroffenen Auswahl kann man sicher vieles vorwerfen, nur nicht mangelnde Haltung. Alle Bücher, die ich zum Gegenstand einer Besprechung oder Betrachtung mache, bedeuten mir etwas, habe ich mit Bedacht gewählt und gelesen und setze mich mit ihnen (fast immer) unabhängig von Zeitgeist und Mode auseinander.
4.) Ich schreibe Texte und entlasse sie in die Freiheit; niemand muss sie lesen, jeder kann sie lesen. Mein Produkt ist nicht professionell, was in diesem Fall heißt, ich bin nicht darauf angewiesen, Mehrwert zu erwirtschaften und Einkünfte zu erzielen. Anders als professionelle Medienerzeugnisse ist mein Blog frei von wirtschaftlichen und monetären Zwängen. Ich verdiene mein Geld mit meiner Arbeit an anderer Stelle (wenn auch gelegentlich mit ähnlichen Themen), aber mein Blog ist (sinnvolles) Hobby, geistiger Ausdauerlauf, Gedankenspielerei und mitunter intellektuelles Fallschirmspringen. (Manchmal blödel ich auch einfach nur herum.) lustauflesen.de verbreitet Inhalte gewissermaßen mit Open-Source-Philosophie. Das Argument, damit würde ich am Ast sägen, auf dem ich sitze, also mich und andere auf Dauer der Möglichkeit berauben, von journalistischer Arbeit zu leben, kann ich nicht nachvollziehen. In meinen Blog investiere ich Zeit, die ich mir mit anderen Beschäftigungen nicht-beruflicher Art vertrieben hätte, würde ich nicht schreiben. Zeit ist Geld, heißt es; aber, was ich hier vorschieße ist umfänglich gegenfinanziert. An kritische Grenzen stößt das Modell Blog nur, wenn investierte Zeit und Aufwand nicht mehr im richtigen Verhältnis stehen. Doch das zu steuern, liegt in meiner Hand, sei es durch die Frequuenz der Veröffentlichungen oder deren Umfang.
5.) Hinter lustauflesen.de steckt kein Amateur oder Dilletant. Kritiker, die Blogs und ihre Macher derart verächtlich machen, übersehen erstens, dass die Begriffe Amateur und Dilletant zu unrecht negativ konnotiert sind, wie ein Blick ins Lexikon unter den entsprechenden Stichworten belegt und zweitens, dass zwar nicht hinter allen, aber doch sehr vielen Blogs Menschen mit Sachverstand und Expertise stecken, in ausgewählten Teilgebieten und bei bestimmten Themen sogar mit mehr Expertise als mancher Verfasser einer Kritik im »klassischen Feuilleton«. Die Zahl der Verlage und Autoren, die Blogs als gleichberechtigtes Medium zur Verbreitung von Inhalten und Meinung anerkennen und fördern, wächst kontinuierlich; auch das ist Zeichen dafür, dass die Expertise vieler Bloggerinnen und Blogger anerkannt und für wertvoll gehalten wird.
6.) lustauflesen.de urteilt qualifiziert. Ist mein Blog, bloß weil er nicht Teil meiner beruflichen Tätigkeit als Journalist ist, automatisch nicht journalistisch? Wohl kaum. Freilich, nicht alle Beiträge, die hier veröffentlicht wurden (und werden) sind journalistische Perlen. Aber ebenso gilt: nicht alles, was in Zeitungen, die ich kaufen muss, gedruckt wird oder in Funk und Fernsehen, die ich wahlweise über Rundfunkabgabe oder zu erleidende Werbung finanziere, verbreitet wird, ist automatisch hochwertig. Es stimmt unbenommen, dass viele Buch- und Literaturblogs über pauschale Urteile wie »ein Super-Buch«, »ein Meisterwerk« oder »fand ich ganz toll, habe ich gerne gelesen« hinauskommen, aber im klassischen Feuilleton sind die Urteile oftmals wenig präziser oder umfassender begründet. Nicht alle meiner Beiträge und Posts sind Literaturkritik, Gott bewahre!, aber sie liefern Informationen zur Meinungsbildung, sind kleine Puzzlestücke eines Gesamtbildes.
7.) Fundament von lustauflesen.de ist die informierte Haltung, nicht Schwärmerei. Das subjektive Urteil hat Raum, aber wird abgefedert durch Techniken und Verfahren objektiver Beurteilung von Kunstwerken, die ich mir in einem Studium unter anderem der Literaturwisschenschaft versucht habe anzueignen und zu erlernen. Sprachlich und stilistisch, das gebe ich unumwunden zu, liege ich gegenüber zahlreichen anderen Buch- und Literaturblogs, die ich aufmerksam und mit großem Gewinn verfolge, weit zurück. Das ist einerseits ein Ansporn und andererseits der Gegenbeweis der zu unrecht erhobenen Behauptung, Blogs seien klassischen Medien nicht ebenbürtig. Nicht überall im Internet wird intellektuelles Niveau nur abgesenkt.
Abschluss – und nun?
Nicht unerwähnt bleiben soll (last but not least) ein Beitrag von Richard Gutjahr, der sich dem Neid und der Missgunst auf Blogger entgegenstellt und den Idealismus des Bloggens preist. Auch dieser Text hat meinen befeuert. In gut dialektischer Tradition wird der Verweis auf die (ebenso lesenswerte und ebenso befeuernde) Gegenrede von Thomas Brasch nicht verschwiegen.
Das war viel Text, nicht völlig frei von Redundanz (und Peinlichkeit); doch ich wollte und musste mir das von der Seele schreiben. Einiges ist (noch) Wunschliste, anderes (in Teilen) Realität bei lustauflesen.de. Ich arbeite dran, und die Überlegungen zum Selbstverständnis und zur Haltung dieses Blogs sind längst nicht abgeschlossen. Gut möglich, dass künftig weitere Gedanken durch die Pipeline in Richtung geschriebener Beitrag fließen.
Ihr/Sie seid/sind nun herzlich eingeladen, mich mit Anregungen, Fragen und Kritik zu bestürmen und auch mit Widerspruch und Ablehnung nicht hinter dem Berg zu halten. Ich wünsche mir und freue mich auf, so sie sich ergeben sollte, eine rege Diskussion.