Eine brutale und schonungslose Parabel – »Das große Heft« von Ágota Kristóf
Gewöhnlich halte ich mich in meinen Blogartikeln bedeckt, persönliche Reaktionen und Betroffenheiten finden selten Raum. Aber Ausnahmen bestätigen bekanntermaßen die Regel. Über Das große Heft von Ágota Kristóf berichte ich hier persönlich, denn dieses Buch hat mich getroffen. Der kurze, sehr heftige Roman schlägt jedem Menschen, der unerschütterlich an eine positive conditio humana glaubt und der zu Empathie noch fähig ist, mit voller Wucht in den Magen.
Es herrscht Krieg. Zwei Zwillingsbrüder werden von der Mutter zur Großmutter aufs Land gebracht. Der Vater ist an der Front. Die namenlosen Brüder, niemand im Buch hat einen Namen, werden von der Großmutter nur widerwillig aufgenommen. Sie nennt die neunjährigen Buben »Hurensohne« und läßt sie für sich schuften bis zum Umfallen, läßt sie hungern und frieren, behandelt sie wie den letzten Dreck. Weil die Großmutter unter Verdacht steht, ihren Mann vergiftet zu haben, wird sie im Dorf nur die »Hexe« genannt, und wie eine Aussätzige behandelt. Auch die beiden Jungen gehören bald zu den Ausgestoßenen.
Sie müssen wissen, weinen nutzt nichts. Wir weinen nie. Dabei sind wir noch keine Männer.
Die Zwillinge ergeben sich nicht ihrem Schicksal, sie wehren sich und entwickeln sich zu Uberlebensprofis. Sie legen sich härteste Übungen auf, »Übungen zur Abhärtung des Körpers« und »Übungen zur Abhärtung des Geistes«. Mit großer Kontemplation und repetetiver Ernsthaftigkeit, beinahe wie in mönschichen Exertitien, wappnen sie sich gegen die Widrigkeiten und Anfeindungen des Lebens. Sie schlagen sich, sie legen sich stundenlang nackt in den Schnee, sie hungern freiwillig, sie schweigen, sie beschimpfen sich, lehren sich gegenseitige eine Sprache ohne Emotion und lernen sie zu sprechen: Sie züchten sich eine physische Hornhaut auf den Körper und eine psychische auf die Seele. Diese Lektionen tragen sie in ein großes Heft ein, akribisch werden die Lektionen der Schule des Lebens protokolliert. Es ist die Grausamkeit der Umstände, die Brutalität des Krieges, die sie dazu treibt, alle Spuren kindlicher Unschuld aus ihren Herzen zu reissen.
Ágota Kristóf findet für die gnadenlose und abgründige Geschichte der Zwillinge einen einzigartigen Ton. Erzählt wird in einer schnörkellosen, glasharten Hauptsatzprosa, die in ihrer Kargheit an den knappen Ton Grimmscher Märchen erinnert. Hier wie dort werden selbst die größten körperlichen Verstümmelungen, seelischen Verletzungen und Perversionen, bis hin zum explizit geschilderten sexuellen Mißbrauch, wie beiläufig berichtet. Kristóf gelingt es, in Das große Heft ihre Parabel, ihr Kunstmärchen von den zwei Brüdern im verzweifelten Kampf gegen die Verrohung der Welt, kühl und emotionslos zu protokollieren. Durch bloßes Bennenen, in größter Einfachheit und Klarheit, evoziert sie im Kopf des Lesers dunkelste Nachtmahre.
Die Wörter, die die Gefühle definieren, sind sehr unbestimmt, es ist besser man vermeidet sie und hält sich an die Beschreibung der Dinge, der Menschen und von sich selbst, das heißt an die getreue Beschreibung der Tatsachen.
Die Brüder werden aber beileibe nicht als seelenlose Monster gezeichnet, sie sind einfach nur klug genug zu bemerken, dass mit Liebe und Mitleid in totalitären Zeiten nicht zu überleben ist. Sie zeigen sehr wohl Mitgefühl für andere Menschen, setzten sich beschützend etwa für Hasenscharte, das Mädchen vom Nachbarshof, ein oder arrangieren sich mit dem dem jüdischen Mädchen, das sich als falsche Kusine getarnt, eine zeitlang bei der Großmutter versteckt. Solange das eigene Überleben nicht gefährdet ist, ist Menschlichkeit und Empathie erlaubt. Auch zwischen der Großmutter und den Jungen entsteht allmählich eine von Respekt und Fürsorge geprägte Beziehung. Psychologisch ebenso faszinierend wie abgründig ist, wie aus gegenseitiger Abhängigkeit und aus beiderseitigem Mißtrauen über die Zeit ein Verhältnis entwickelt, das erst von Respekt, später gar von Spuren der Zuneigung geprägt ist.
So wie alle Figuren namenlos sind, so ist der Handlungsrahmen zeitlos und der Schauplatz ohne Ortsangabe. Jahreszahlen werden nicht genannt; der Krieg ist »der Krieg«, der Feind ist »der Feind«, die große Stadt ist »die große Stadt«. Und doch wird aus dem Verlauf der Handlung schnell deutlich, Das große Heft spielt im Zweiten Weltkrieg, der Ort der Handlung ist ein osteuropäisches, von der Deutschen Wehrmacht besetztes Land. Nicht nur die Greuel der Nazis werden von Kristóf in dieser großen Parabel geschildert, sondern auch die der Sowjetarmee, die anfangs als Befreier, dann als Vergewaltiger und Plünderer und schließlich als Unterdrücker der Freiheit auftreten. Doch die exakte Spiegelung realer Zeitgeschichte spielt letztlich keine Rolle. Ágota Kristóf verkörpert sie in Form zeitloser Elementarkräfte: Hunger, Schmerz, Gewalt, Verrat und Tod.
Ohne Wunde kommt man nicht heraus aus diesem Buch. Die Grausamkeit des Krieges wird nicht wegen ihrer Lautstärke, sondern ganz im Gegenteil wegen einer poetischen Stille im Text ohrenbetäubend. Beinahe eisig-kalt, mit mikroskopisch feiner Präzison hat Kristóf ihren Text von allen überflüssigen Bildern und Metaphern befreit. Geblieben ist eine Erzählung, deren Sätze immer wieder wie Sprengfallen im Kopf des Lesers explodieren. Und dennoch: Bei aller Gewalt, bei aller Brutalität und sexueller Perversion, die hier auf mich losgelassen wird, am Ende stelle ich fest: Das große Heft ist im Kern ein zartes Plädoyer für die Liebe und die Menschlichkeit.
Selten hat mich ein Roman so aufgesogen, selten eine Erzählung mit so klarer, kristalliner Sprache derart aufgewühlt und ergriffen. Die beiden Jungen wachsen mir ans Herz, obwohl sie in ihrem existentiellen Willen zum nackten Überleben, am Ende selbst den Vater und, indem sie ihre bewährt-kräftige Zwillingseinheit zerreissen, auch sich selbst opfern. Beim Zuschlagen des Buches musste ich kräftig schlucken, mehrmals; Ágota Kristóf zeigt in ihrer Allegorie auf die Verrohung in Zeiten des Krieges, wie unausweichlich die Schule des Lebens sein kann, wie mit treibender Notwendigkeit der innere Widerstand gegen Unmenschlichkeit und Gewalt aufgegeben wird, aus purem Überlebenswillen, mit aller Brutalität. In seiner kühlen Sachlichkeit ist das desillusionierend und aufrüttelnd. Mit Das große Heft hat sich Ágota Kristóf einen Platz in der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts gesichert.
Aus dem Französischen übersetzt von Eva Moldenhauer
Gebunden, fadengeheftet, 160 Seiten
Berlin: Rotbuch Verlag 2013
Mehr Informationen zum Buch auf der Webseite des Verlages.
Das große Heft ist in der Übersetzung ins Deutsche von Eva Moldenhauer erstmals 1987 erschienen und ist neben der vorgestellten Ausgabe im Rotbuch Verlag auch als Taschenbuch bei Piper erhältlich, veilleicht trage ich hier Eulen nach Athen und der beklemmende Roman ist längst vielen, vielen Lesern bekannt. Ich habe ihn erst vor kurzem entdeckt und kann nur sagen: Lesen, unbedingt lesen.
Ágota Kristóf, geboren 1935 in Csikvand, Ungarn, flüchtete 1956 aus ihrer Heimat und emigrierte in die Schweiz. Sie fand Arbeit in einer Uhrenfabrik und erlernte die französische Sprache, in der sie fortan ihre Bücher schrieb. Ihre Werke sind in mehr als 20 Sprachen übersetzt worden. Agota Kristof starb 2011 in Neuchatel. In Die Analphabetin, einer autobiographischen Erzählung, hat sie 2005 geschrieben:
Wie wäre mein Leben gewesen, wenn ich mein Land nicht verlassen hätte? Härter, ärmlicher, denke ich, aber auch weniger einsam, weniger zerrissen, vielleicht glücklich. Was ich sicher weiß, ist, dass ich überall und in jeder Sprache geschrieben hätte.
P.S.: Ich danke Christiane Hahn von der Buchhandlung Anakoluth. Ohne ihre eindringliche, dabei warmherzige Empfehlung wäre mir Das große Heft bis heute unverschlossen geblieben.