Nochmals: Große Literatur – Eine Annäherung an objektive Kriterien
Was ist große Literatur? Antworten auf diese Frage haben vor geraumer Zeit einige Bloggerinnen und Blogger gesucht. Ausgangspunkt war eine beiläufige Bemerkung Uwe Kalkowskis (Kaffeehaussitzer) im Rahmen einer Diskussion über Eggers Der Circle auf Twitter. (Foto Kaffehaussitzer). Die daraufhin veröffentlichten Blogbeiträge näherten sich der »großen Literatur« individuell und überzeugten mit subjektiven Argumenten, es waren persönliche und (das unterstelle ich) ehrliche Aussagen, die dort in den Raum gestellt wurden. Exemplarisch genannt und zur erneuten Lektüre empfohlen seien: literaturen – Was ist eigentlich große Literatur | Kaffeehaussitzer – Die Gretchenfrage nach der Axt | Brasch & Buch – Ich bin zu klein für große Literatur | Bücherstadtkurier – Große, kleine, dicke, dünne Literatur – Und was ist Weltliteratur? | buchpost – Was ist ein Klassiker? (Ein Artikel der bereits vor der Diskussion geschrieben wurde.)
Übermütig habe ich damals eine Erweiterung der Frage in den Kreis der Disskutanten geworfen. Gibt es möglicherweise objektive, allgemeingültige Kriterien für große Literatur? Die Antwort, die ich bis heute schuldig geblieben bin, möchte ich heute geben, genauer gesagt, den Versuch einer Antwort. Denn meine Ausführungen sind notwendigerweise stichpunktartig und angesichts des weiten Feldes unvollständig.

Im deskriptiven und normativen Vokabular der Literaturwissenschaft (als einer nach objektiven Kriterien suchenden und arbeitenden Disziplin (Voraussetzung)) wird der Begriff »große Literatur« nicht geführt. Wie schwammig und unpräzise der Begriff ist, zeigt sich allein im möglichen Antonym »kleine Literatur«. Gesetzt den Fall wir liessen das Begriffspaar dennoch passieren, dann wäre es zwingend nötig, sich auf einen verbindlichen Maßstab zu einigen, auf eine Art literarisches Urmeter. An dieser Aufgabe scheitert die Literaturwissenschaft, sie kennt wie alle Geisteswissenschaften (anders als die Physik und andere Naturwissenschaften) keine in der Natur gegebenen oder aus der Natur ableitbaren Normen und Gesetze.
Hier wird es theoretisch und kompliziert
Aber um Maßstäbe (zumindest um Kriterien) zur Wertung (im Sinne von Bewertung) von Literatur hat sich die Literaturwissenschaft durchaus bemüht und in eng gesteckten Grenzen sogar Einigungen erzielen können. Unterschieden werden können sprachliche Wertungen und motivationale Wertungen. Sprachliche Wertungen können offen (Dieser Roman ist ein Meisterwerk.) oder versteckt sein (Dieser Roman ist sehr umfangreich. (Das ist für jemanden, der eher kurze Texte bevorzugt, eine negative Wertung, für jemanden, der lieber lange Texte mag, eher eine positive Bewertung)) Zu den sprachlichen Wertungen soll dies (zunächst) genügen, denn in der Frage nach möglichen objektiven Kriterien für »große Literatur« sind motivationale Wertungen hilfreicher.
Motivationale Wertungen verfestigen sich meistens in der Auswahl von Texten. Das können bewusste Entscheidungen für ein bestimmtes Werk, einen bestimmten Autor oder ein bestimmtes Genre sein. Genauso kann die Selektion aber vor-bewusst erfolgen und auf (ausserliterarischen) Werten beruhen. Von gewissem Einfluss ist hier die Sozialisation des Lesers, die wiederum von subjektiven Komponenten (Erfahrungen, Dispositionen) oder intersubjektiven Komponenten (Konventionen, Normen) gesteuert wird. Im Idealfall bringt die Selektion (bewusst oder vor-bewusst) dem Leser zum einen spezifischen kognitiven und emotionalen Gewinn, der auf andere Weise nicht zu erzielen ist, zum anderen ermöglicht sie ihm Probehandlungen, also das Spiel mit Normen und (ausserliterarischen) Werten, ohne dabei Zwängen jeglicher Art zu unterliegen. Der kognitiv-emotionale Gewinn beruht (überwiegend) auf formal-ästhetischen Werten (Schönheit, Stimmigkeit, Offenheit), der inhaltlich-spielerische Gewinn fußt eher auf gesellschaftlichen und politischen Werten (Moralität, Freiheit, Humanität). Diese Wertmaßstäbe werden (bewusst und vorbewusst) in allen Bereichen, die sich mit Literatur beschäftigen, angelegt: in der Produktion (Autor), in der Distribution (Verlage, Buchandel, Bibliotheken) in der Rezeption (Leser) und der Interpretation (Kritik, Feuilleton).
Zwei weitere Typen von Werten sollen ins Feld geführt werden. Keine Panik, es sind die letzten beiden, bevor ich den Strapazen meiner Leser ein Ende setze. An die Literatur werden relationale und wirkungsbezogene Werte herangetragen. Relationale Maßstäbe bestimmen den Wert von Literatur in Hinsicht auf Bezugsgrößen wie natürliche Sprache, literarische Tradition oder auch die Realität. Von Interesse sind Übereinstimmungen und Abweichungen, Fragen von Originalität und Innovation. Texte von Wert überzeugen mit schöpferische Kraft (bezogen auf die Form) und mit Authentizität und Wirklichkeitsnähe (bezogen auf den Inhalt; wobei Wirklichkeitsnähe auch erzeugt werden kann, indem sich der Text absichtsvoll der Realität diametral entgegen stellt oder sich weit von ihr entfernt)). Die wirkungsbezogenen Maßstäbe beurteilen die tatsächliche (oder vermutete) Wirkung auf den Leser. Das können kognitive Effekte sein (Wissensvermittlung, Informationsgewinn) oder emotionale Effekte (Mitleid, Identifikation, Lust), lebenspraktische Wirkungen (Sinnstiftung, Handlungsanweisung) oder Effekte, die gesellschaftlich relevant sind (Zunahme an Prestige, Anerkennung, Statusgewinn).
Nicht verschwiegen werden soll, ohne es detailliert auszuführen: sowohl bei relationalen und wirkungsbezogenen Wertungen, als auch bei sprachlichen und motivationalen Wertungsmaßstäben ist entscheiden, welche Literaturtheorie bei der Betrachtung zugrunde gelegt wird, gleiches gilt für das gesellschaftliche Modell (Politik, Wertesystem, Wirtschaft, Soziales). Man sieht, viele Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um möglichst allgemeingültige Urteil fällen zu können.
Zurück zum Ausgangspunkt
Was hat das alles mit der Frage nach »großer Literatur« zu tun? Ersetzen wir »groß« durch »wertvoll« und legen dann die oben aufgedröselten Kriterien für »Wertung von Literatur« an, so ergibt sich folgendes (vereinfachtes) Bild. Je größer die Menge der individuellen Leser/Interpretatoren ist, die sich bei einem gegebenen Werk der Literatur nach sorgfältiger Überprüfung darauf einigen kann, hier möglichst viele oder alle Kriterien erfüllt zu sehen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei diesem Werk um ein wertvolles und bedeutendes handelt. Besteht dieser Konsens möglichst vieler Leser zusätzlich überzeitlich und kontextunabhängig, dann kann dies die Relevanz des Werkes zusätzlich steigern.

All das führt, aufmerksame Leser haben es längst geahnt, mitten hinein in das umstrittene Gebiet der Kanonbildung (Als Einstieg in die Problematik: Wikipedia – Kanon der Literatur). Ohne (auch) das weiter vertiefen zu wollen, soll an dieser Stelle nur festgehalten werden: Kanonbildung als Durchsetzung zeitloser literarischer Qualität nach eigenen Gesetzen gilt als überholt. Ein Kanon resultiert heute eher aus einer Reihe von Deutungs- und Selektionsprozessen, in denen literaturinterne und soziale Komponenten hinein- und zusammenspielen (siehe oben!). Problematisch bleibt, dass Kanones sich immer erst in zeitlichem Abstand herauskristallisieren. Die unmittelbare literarische Gegenwart bleibt meist aussen vor, weil deren Relevanz, Bedeutung und ja, auch »Größe« sich erst noch in der Bestätigung der Kriterien des Wertes in möglichst hoher Zahl durch möglichst viele Leser/Interpretatoren (überzeitlich und kontextunabhängig) erweisen muss.
Fazit – Karg und knapp
Hier schließt sich höchst überraschend der Kreis zu den eingangs erwähnten Blogbeiträgen, die sich vor 14 Monaten (vermeintlich) subjektiv und privatim dem Phänomen »große Literatur« angenähert haben. Denn zwischen den Zeilen läßt sich dort, als hätten wir es nicht längst geahnt, vieles von dem herauslesen, was ich hier referiert habe. (Das Referierte, wohlgemerkt, ist nicht auf meinem Mist gewachsen ist, sondern basiert ausschließlich auf gelehrten Texten Anderer.) Ersetzen wir das kurze, aber unpräzise Wort von »großen Literatur« durch das genauere, aber monströse Wort von der »Literatur, die überzeitlich und kontextunabhängig, innerhalb gegebener Systeme in der Betrachtung möglichst vieler Individuen möglichst viele Kriterien zur Bewertung von Literatur positiv erfüllt«, käme das einer (nahezu) objektiven Beurteilung näher. Praktikabel im alltäglichen Gespräch wäre es aber nicht. Sollen und können wir also weiter leben mit dem Begriff »große Literatur«? Ich denke, einen Versuch wäre es wert.
Möge die geneigte Leserschaft nun entscheiden, ob dieser Versuch zu weiterführender Diskussion anregt oder, gesteht mir diese Koketterie am Ende zu, einfach nur in die Hose gegangen ist.
29. November 2015 @ 19:34
In meiner Leselücke zwischen „Der bleiche König“ und „Stoner“ stolperte ich neulich bei einem neunjährigen Freund über „Gregs Tagebuch“, fiel auf den Bauch und las in dieser Position mit königlichem Vergnügen das halbe Buch, bis es meinen Freund nervte, daß ich mich mehr mit seinem Buch beschäftigte als mit ihm. Bei der nächsten Gelegenheit kaufte ich alle Bände, habe jetzt ein Drittel durch, den „Stoner“ auf nächste Woche verschoben, und genieße täglich die kindische Vorfreude auf Gregs Geschichten, und die Frage, ob es sich dabei um „Große Literatur“ handelt, läßt mich herzlich kalt … gehe also so ziemlich d’accord mit dem vorangegangenen Beitrag von Petra.
21. November 2015 @ 19:22
Versuch macht kluch – mir gefällt dein Versuch sehr gut. Die Sache mit den Bewertungskriterien, selbst wenn sie alle gefunden, definiert und erfüllt sein sollten, ist zwar hilfreich, aber am Ende ist es doch auch immer der persönliche Geschmack. Das höchstpersönliche Kriterium der eigenen Mitgerissenheit auf allen möglichen Ebenen. Vielleicht fallen deshalb auch die Besprechungen zu einem Buch so unterschiedlich aus, weil man für sich bestimmte Kriterien bestimmten anderen vorzieht. Auch insofern bin ich nicht sicher, ob eine objektive Bewertung überhaupt möglich ist oder auch nur unbedingt nötig. Auf jeden Fall sind die unterschiedlichen Meinungen, Bewertungen und Argumente hochinteressant. Herzliche Grüße
Petra
20. November 2015 @ 12:51
Ach, was wäre die Welt ohne einen Literatur-Kanon? Doch nur die Hälfte wert. Selbstverständlich gibt es in der Gegenwartslitertur auch “Große Literatur”, da muss ich gar nicht erst 50 Jahre abwarten, womöglich bin ich dann tot und verpasse den offiziellen Einlass von Ian McEwan (“Abbitte”, Saturday”, “Kindeswohl”), Dieter Forte (“Das Haus auf einen Schultern”) und Richard Powers (“Der Klang der Zeit”) in den Kanon der “Großen Literatur” und das geht natürlich gar nicht, also sage ich doch gleich hier und jetzt, dass es sich um große Literatur, um Meisterwerke handelt, da muss man doch nur mal sein Oberstübchen einschalten, um die Genialität dieser erwähnten Werke, die es durchaus mit den alten Klassikern aufnehmen können, zu erkennen. Und wenn ich demnächst Zeit habe, dann gibt es einen gar wunderprächtigen Literatur-Kanon der Gegenwartsliteratur. Es grüßt der dem Wahren, Guten und Schönen verpflichtete Kritiker Gérard. Habe die Ehre.
20. November 2015 @ 17:00
Hallo Gérard, auf »Deinen Kanon« warte ich mit Spannung … und auf die anschließende Diskussion, sowie das Aufstellen unterschiedlichster Gegenkanones.
Ein Kanon kann immer nur eine mögliche Auswahl sein und hat immer empfehlenden Charakter. Er sollte betrachtet werden als Ausgangspunkt, als eine Leiter, die man nach dem Aufstieg wegstößt, um freihändig weiterzuklettern und neue eigene Wege und Nebenwege zu finden.
Was den zeitlichen Abstand und die Kontextunabhängigkeit anbelangt: feste Jahreszahlen einzuziehen ist nicht sinnvoll. Bestimmte Werke erobern schnell Plätze in Kanones, andere brauchen lange, dritte schaffen es nie, obwohl sie es verdient hätten. »Einfach nur mal das Oberstübchen einschalten …« ist ein möglicher, aber auch ganz problematischer Maßstab.
Muss ich aber nicht betonen, oder?! Weißt Du selbst. (Hier bitte ironischste Smileys imaginieren!) lg_jochen
20. November 2015 @ 10:28
Eine gute und zutreffende Darstellung. Das ist, wie es funktioniert. Was nun noch zur Diskussion gestellt werden müsste, ist, ob diese Bewertungskriterien, deren Gültigkeit letzten Endes immer abhängig davon sind, dass sich eine ´Mehrheit´ entsprechend für ein Werk ausspricht, unter diesen Bedingungen wirklich etwas aussagen können – oder einfach nur immer die Wirkungsweise der Diskursordnung widerspiegeln… – Natürlich, es gibt wohl keine andere Möglichkeit der Beurteilung; aber ich finde es wichtig, sich immer wieder das Prinzip zu vergegenwärtigen, was dazu führt, dass manche Werke Eingang in den Kanon finden, andere wiederum ausgeschlossen werden und möglicherweise in der Versenkung des Vergessens verschwinden… Kurz, was ich damit sagen bzw. fragen möchte, ist: Ist die Meinung der meisten wirklich ein Garant für Richtigkeit in der Urteilsfindung oder setzt sie sich unter Umständen schlichtweg durch die Konstruierung von Wirklichkeit über die Wahrheit hinweg und schafft so ihre eigene Wahrheit, als eine “Wahrheit, die vor ihren eigenen Augen entsteht” (Foucault: Die Ordnung des Diskurses)?
20. November 2015 @ 12:06
“Ist die Meinung der meisten wirklich ein Garant für Richtigkeit in der Urteilsfindung oder setzt sie sich unter Umständen schlichtweg durch die Konstruierung von Wirklichkeit über die Wahrheit hinweg und schafft so ihre eigene Wahrheit, als eine “Wahrheit, die vor ihren eigenen Augen entsteht” (Foucault: Die Ordnung des Diskurses)?”
Ich glaube, die Beurteilung von Literatur ist immer eine eigene. Da kann man m.E. nicht von Richtigkeit sprechen.
20. November 2015 @ 16:45
Liebe Annegret,
im Kern ist die Beurteilung von Literatur subjektiv, das ist völlig richtig. Meine ist es auch. Das soll, kann und wird auch niemandem genommen.
Aber mich reizt die Frage schon, ob Beurteilungskriterien existieren (können), die möglichst viele Leser/Interpreten teilen. Wie schwierig und »rutschig« dieses Gebiet ist, zeigt sich in dem treffend gewählten Zitat von Foucault. Bereits im Artikel habe ich ja erwähnt, vielleicht zu beiläufig, wie sich Maßstäbe verschieben, je nachdem aus welcher Perspektive sie betrachtet werden. Letztlich hilft nur das dauerhafte Gespräch, der dauerhafte Austausch. Je mehr Menschen in diesen Austausch einbezogen werden, desto besser.
lg_jochen
20. November 2015 @ 16:48
Das »umkämpfte« und (auch) mit vielen »ideologischen Minen« gespickte Gebiet der Kannonbildung, lieber Anton, wäre (mindestens) einen weiteren Beitrag wert.
Sie haben völlig Recht, wenn Sie nachfragen, ob die Meinung einer Mehrheit, ein Garant ist. »Große Literatur« ist und bleibt nicht zu fassen …
lg_jochen
21. November 2015 @ 23:48
Ja, einen kleinen Vorstoß in diese Richtung, wenn auch in sehr schwammiger und assoziativer Weise, habe ich vor ziemlich genau drei Monaten in meinem Beitrag “to whom it may concern #1” auf meinem Blog https://indieautor.wordpress.com unternommen. Über Kommentare und Meinungen zu meinen dort unzureichend formulierten Gedanken zu Kanonbildung und Kunst würde ich mich freuen!
Beste Grüße,
Anton
20. November 2015 @ 09:49
Eine wunderbare Ausführung! Mir stellt sich im Nachhinein die Frage, ob “Große Literatur” nicht eine Frage der Zeit ist. Kann man Gegenwartsliteratur als “Große Literatur” bezeichnen, oder muß man eine großen Zeitraum abwarten und dann sagen: “Ja, das ist “Große Literatur” gewesen!”?
Nachdenkliche Grüße
Annegret