Der Hai von Messina und Roland Barthes
Vincenzo Nibali hat gewonnen. Le Tour 2014 est fini. Dopingsünder wurden (bislang) nicht ertappt. Die Zuschauerzahlen am Streckenrand sind konstant geblieben bzw. stiegen moderat. Ist also alles in Ordnung, hat „Le Tour“ ihren Ruf als Mythos erneut erfolgreich verteidigt?
Bei der Antwort kann vielleicht Roland Barthes helfen. In seiner Artikelreihe zu den Mythen des Alltags aus den 1950er Jahren hat er auch einen Blick auf die Tour de France geworfen. Sie funktioniert wie ein Epos, sagt Barthes, ist die allgemeingültige Erzählung einer Heldengeschichte.
Wie in der Odyssee ist die Fahrt hier Rundfahrt von einer Prüfung zur nächsten und zugleich totale Erforschung der Grenzen der Welt. Odysseus hatte mehrmals die Pforten der Unterwelt erreicht. Die Tour berührt an mehreren Stellen die außermenschliche Welt.
Roland Barthes
lustauflesen.de überprüft den Mythos Tour. Einige Gedankensplitter und Notate zu einem längst nicht mehr unumstrittenen Sportwettkampf vor der Folie von Roland Barthes Mythen des Alltags.
Wesenszüge der Tour als Epos
Für die Radsportfans ist Vincenzo Nibali Der Hai von Messina, und Nibali ist nicht der einzige Fahrer, der nach Heldentaten mit einem Beinamen versehen wurde. Die eigentümliche Onomastik der Tour de France ist für Barthes ein erstes hervorstechendes Merkmal für die epische Qualität der Rundfahrt. Doch anders als in früheren Jahrzenten scheinen sie heute weit seltener aus der „ethnischen Geschichte“, aus der „Stammeszugehörigkeit“ entlehnt zu sein. Namen wie Brankart der Franke, Robic der Kelte oder Ruiz der Iberier sterben aus in Zeiten der Globalisierung (auch) des Spitzensportes. Die Magie des Beinamens ist keine ethnische mehr, sondern eine individuelle, sie verblasst somit.
Der heldenhafte Fahrer überlebt nur als Teil einer Gemeinschaft; in der Equipe, der Schar der Mitstreiter, übernimmt er die Führerschaft und wird getragen. Früher war bei der Tour diese Schar der Streiter noch „national“ geprägt, heute sind ökonmische Interessen ausschlaggebend. Der moderne Rennsport degradiert den Helden zum Söldner, die eingeschworene Schar der Streiter mutiert zur Interessensgemeinschaft. Bezahlte Krieger aber sind eines Epos nicht mehr würdig.
Geblieben jedoch ist die Rolle der Landschaft, die Geographie der Tour entspricht der „epischen Notwendigkeit der Prüfung des Helden“.
Die Bodenelemente und Bodenformen sind personifiziert, denn eigentlich mißt sich der Mensch mit ihnen, und wie in der Heldendichtung kommt es darauf an, daß der Kampf zwischen gleichrangigen Gegnern stattfindet. Der Mensch muß also naturalisiert, die Natur vermenschlicht werden.
Roland Barthes
Steigungen sind böse, mit mörderischen Prozentsätzen bewaffnet, und die Etappen als Einzelkapitel der Erzählung, als Prüfung des Helden, sind zäh, dornig, verdorrt. Sportreporter bedienen sich gerne dieser epischen Erzählhaltung, glauben fest an den Mythos des Kampfes Mensch gegen Natur. In der Rethorik des Sportreporters lebt der Mythos fort, scheinbar ungehemmt, selten nur unterbrochen von Reflexion.
Der Sündenfall
Damit der Fahrer, der Held der Straße die anthropomorphe Natur besiegen kann, „unterhält die Tour eine Energetik des Spirituellen“. Da ist zunächst die Form, ein „Zustand des Elan, ein Gleichgewicht zwischen Muskelqualität, Verstandes- und Willensstärke“. Zur Form gesellt sich der „Jump, ein veritabler elektrischer Stromstoß, der manche Götterlehrlinge unter den Fahrern durchzuckt und sie übermenschliche Taten vollbringen läßt“, ein Beistand Gottes. Aber es gibt auch eine abstoßende Parodie des Jumps, das Doping.
Den Rennfahrer aufzuputschen ist ebenso verbrecherisch, ebenso ruchlos, wie der Versuch, Gott nachzuahmen. Doping heißt, Gott das Privileg des Funkens zu stehlen.
Roland Barthes
Radsport heute ist die systematische, technologisch perfektionierte Versuchung Gottes. Der Jump wird künstlich herbeigeführt, von allen Beteiligten, sagen zumindest Insider. Die Tour hat somit ein weiteres, sehr wesentliches Merkmal ihrer epischen Qualität eingebüßt. Wichtig für Barthes war die Tour als Stifterin nationaler Identität, weil sie „Ausdruck und Befreiung der Franzosen mittels einer einzigartigen Fabel“ sei. Eine Mehrheit in der Grande Nation unterschreibt das bis heute, wie jüngste Umfragen belegen. Längst im Zwielicht, im Abseits steht die Tour dagegen in Deutschland und den USA; kein Wunder, wurden doch die „epischen Helden“ dieser Nationen in den vergangenen Jahren als würdelose Betrüger entlarvt und über Nacht entthront. (Spanier und Italiener, so scheint’s, verhalten sich eher indifferent.)
Vollständige Ausgabe
Aus dem Französischen von Horst Brühmann
Broschur, 325 Seiten
Berlin: Suhrkamp 2012
Barthes lesen macht Spaß
Roland Barthes Mythen des Alltags sind selbst längst Mythos. In seinen im Monatsrhythmus verfassten Zeitungsartikeln nimmt er „Phänomene wie das Glücksversprechen der Waschmittelwerbung, das Sehnsuchtspotential von Pommes frites, die göttliche Qualität des Citroën DS und den literarischen Anmut eines Catch-Kampfes“ unter die Lupe. 1957 erschienen die provokativ-spielerischen Gesellschaftsstudien in Frankreich als Buch. Erst seit einigen Jahren sind sie vollständig in deutscher Übersetzung erhältlich.
Vieles, was Barthes vor mehr als 60 Jahren in seinen Analysen und Interpretationen festgehalten hat, ist weiter gültig. Jeder der kleinen Essays, in denen sich Barthes auf die Suche nach der Wahrheit hinter den Nebensächlichkeiten des Lebens begibt, ist für sich lesenswert. Seine methodische Untersuchung und Definition des „Mythos als Sprache“ hat Barthes den Aufsätzen folgen lassen. Wer tiefer einsteigen möchte, mag das tun, er/sie wird dort wahrlich herausgefordert.
Die einzelnen mitunter sehr amüsanten Essays aber kann ich zur wiederholten, anregenden Zehn-Minuten-Lektüre zwischendurch wärmstens empfehlen, und sei es nur, um sie wie hier auf Gültigkeit zu prüfen.
Foto „Tour“ von Martin Zimmer | Hier das Original – Licensed under Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 via Wikimedia Commons