Tomas Tranströmer – Sämtliche Gedichte
Eine kurze Betrachtung zur (Nach)Wirkung des Nobelpreises für Literatur auf den Kopf hinter lustauflesen.de. Heute nimmt der französische Schriftsteller Patrick Modiano in Stockholm die große Auszeichnung entgegen. Bei der Bekanntgabe im Oktober, ich muss das einräumen, zauberte der Name lediglich viele Fragezeichen auf meine Mine. Mittlerweile habe ich einen seiner Romane an-, aber noch nicht ausgelesen. Das vorläufige Fazit lautet, mir gefällt, was ich von ihm lese.
Ganz ähnlich die Situation vor drei Jahren, als der schwedische Lyriker Tomas Tranströmer geehrt wurde. Sein bis dahin veröffentlichtes Werk war schmal, passte nahezu vollständig in einen handlichen Band, den ich mir umgehend besorgte. Tranströmers Texte haben mich auf Anhieb hypnotisiert und bis heute nehme ich seine Gedichte immer wieder gerne zur Hand. Schon wenige seiner Zeilen heben den aufmerksamen Leser in andere Sphären. Selten ist mir ein Schrifsteller und Dichter so ans Herz gewachsen und, das ist der Anlass für diesen kleinen Beitrag, ohne den medialen Rummel um den Nobelpreis hätte ich ihn vielleicht gar nicht kennen und schätzen gelernt.
Der Baum und die Wolke
Ein Baum geht umher im Regen,
eilt an uns vorbei im strömenden Grau.
Er hat ein Anliegen. Er holt Leben aus dem Regen
wie eine Amsel in einem Obstgarten.Als der Regen aufhört, bleibt der Baum stehen.
Aufrecht, still erscheint er in klaren Nächten
wie wir in Erwartung des Augenblicks,
da die Schneeflocken ausschlagen im Raum.
Tranströmers Texte geben Kunde von einer inneren, erträumten Welt, beschreiben ein Gegenbild zur Realität. Tranströmer nutzt weitgreifende Metaphern, kühne Sprünge und extrem verknappte Bilder, und er besticht mit einer lakonischen und exakten Schönheit der Sprache. Jede Zeile evoziert neue Bilder, hat ihren jeweils eigenen magischen Moment. Tranströmers Gedichte und Kurzprosa halten sich dabei in einem fragilen Gleichgewicht aus Transparenz und Undurchdringlichkeit. Das erzeugt einen unwiderstehlichen Sog.
Schweigen
Geh vorbei, sie sind begraben …
Eine Wolke gleitet über die Sonnenscheibe.Der Hunger ist ein hohes Gebäude
das nachts den Platz wechseltim Schlafzimmer öffnet sich der dunkle Stab
eines Fahrstuhlschachts auf die Innentümer.Blumen im Graben, Tusch und Schweigen.
Geh vorbei, sie sind begraben …Das Tafelsilber überlebt in großen Schwärmen
in großer Tiefe: dort ist der Atlantik schwarz.
Der Übersetzer und Kulturjournalist Hanns Grössel war bis zu seinem Tod im August 2012 die deutsche Stimme Tranströmers. Er hat für den Band mit den Sämtlichen Gedichten auch ältere Texte, die bereits in anderen Übersetzungen vorlagen, neu übertragen. Der Band hat somit einen durchgehenden, einheitlichen Ton. Und die verlegerische Heimat Tranströmers im deutschsprachigen Raum ist, wie für Modiano, der Hanser Verlag. Mit dieser Koinzidenz schließt sich gewissermaßen ein kleiner Kreis. Tranströmer war für mich vor drei Jahren eine formidable Entdeckung und Modiano ist auf dem besten Weg, ihm in diesem Jahr zu folgen. Die Entscheidungen des angeblich so verstaubt denkenden und vergreisten Nobelpreiskommitees haben also doch (nicht immer, aber in Einzelfällen) große Auswirkungen auf Leser.
Aus dem Schwedischen von Hanns Grössel
Flexibler Einband, Klappenbroschur 264 Seiten
München: Hanser (Edition Akzente) 1997
Autorenfoto: Andrei Romanenko, Quelle Wikimedia.org