Trauma ist Verlust – »Eine Handvoll Sekunden« von Peter Verhelst
Eine extreme Grenzerfahrung hat den belgischen Schriftsteller Peter Verhelst dazu geführt, die Arbeit an Eine handvoll Sekunden aufzunehmen. Ausgangspunkt ist ein schwerer Verkehrsunfall, in den Verhelst im April 2013 mit seinem Wagen verwickelt wird. Als er auf der Autobahn einen Lastwagen überholt, löst sich bei diesem ein Reifen, Verhelsts Auto wird getroffen und überschlägt sich mehrere Male, doch der Schriftsteller bleibt beinahe unverletzt. Im Krankenhaus und später bei der Rekonvaleszenz zuhause beschäftigt den Schriftsteller dieser Moment höchster Gewalt in vielfacher Hinsicht.
Zum einen quält ihn der physiche Schaden, verbunden mit der unmöglichen Idee, das in viele Einzelteile und Splitter zerissene Auto wieder zusammensetzten zu können. Es bliebe dennoch ein Schaden, so die Schlussfolgerung, das Auto wäre nicht mehr dasselbe Fahrzeug wie zuvor. Der psychische Schaden, die Verletzung des Geistes, ist ungleich größer. So minutiös und detailgetreu auch die Erinnerung an den Unfallhergang sind, es sind am Ende einige Sekunden verschwunden. Zwei, drei, zehn, fünfzehn? Wieviele es sind und an welcher Stelle sie fehlen, kann Verhelst bis heute nicht eindeutig sagen.
Der Roman Eine handvoll Sekunden ist kein Bericht des Unfalls, ist strengenommen nicht einmal ein Roman. Der Schilderung des Crashs zu Beginn des Buches folgen mehrere Erzählungen und Fragmente, die zunächst nicht zusammen passen wollen. Peter Verhelst öffnet vielmehr einen Raum, in dem er auf mehreren Bühnen gleichzeitig die Themen Verlust, Zeit und Literatur abhandelt. Es geht darum, die Splitter der Realität neu zusammenzusetzen, um ein möglichst vollständiges Bild zu rekonstruieren. Der Originaltitel trifft das genauer als der der deutschen Übersetzung: De kunst van het crashen.
Es sind surreale Geschichten, in denen Verletzungen, Verrat und Verlust die Hauptrolle spielen. Sie zeigen Menschen in Extremsituationen, in denen die Zeit und die Wirklichkeit gedehnt, gestaucht und aufgehoben werden. Der explodierende Airbag knallt beim Aufprall ins Gesicht des Erzählers, er sieht nur noch weiß, kann in der Tiefe dieses Weiß die einzelnen, weißen Fasern des Airbgasgewebe erkennen. In diesem Weiß kristallieren sich die Geschichten von desorientierten und verlorenen Menschen. Trauma ist Verlust.
Verhelst erzählt von einem Verrat, von einer Jagd, von einer Flucht, vom Limbus zwischen Tod und Leben, von Sandy Island, der berühmten weißen Insel vor Australien, die es gar nicht gibt, die aber einst ein Kapitän in die Seekarten gemalt hat, auf dass sie dort für Jahrhunderte verzeichnet blieb, von der Kunst Francis Bacons und seinen »abandoned paintings«, von Bildern, die einfach aufgegeben wurden und im Chaos des Baconschen Ateliers versanken. Als Bindeglied oder Trenner, ganz wie man will, dienen schlaglichtartige Betrachtungen der sich drehenden Glasscheiben von Edward James Muybridge, jenen Vorläufern des Films, auf denen vor einer Lichtquelle rotierende Einzelbilder flackern und eine fortlaufende Bewegung und vergehende Zeit vorgaukeln.
Im letzten, dem längsten Kapitel des Buches setzt Verhelst alles wieder zusammen, soweit das möglich ist. Entscheidend ist für ihn dabei eines: Dinge wieder zusammenzusetzen heißt auch, Möglichkeiten zu konstruieren. Möglichkeiten zu konstruieren heißt, Geschichten zu erzählen. Geschichten zu erzählen heißt, mit Sprache Landschaften zu formen, Realitäten zu entwerfen, in denen Stringenz und Logik nicht zwingend Hauptrollen spielen.
Anders als die menschliche Psyche, der menschliche Geist, ist die theoretische Physik in der Lage, mit einem negativen Zeitstrahl zu operieren. Damit stößt sie an Grenzen der Vorstellungskraft. In genau diesen Grenzbereich stößt auch Peter Verhelst. Er erkundet mit den Mitteln der Literatur Themen, die wir nicht verstehen können oder nicht verstehen wollen. Aber gerade die Themen, die wir nicht verstehen, betont der Autor, sind genau die, die wichtig sind und etwas bedeuten.
Auch wenn es in der äußerlichen Beschreibung so klingen mag, Eine handvoll Sekunden ist kein hermetisches Sprachexperiment, erst recht nicht religiöse oder philosophische Tiefenbohrung. Verhelst entwirft schwebende und berückende Sprachlandschaften. In ihnen wandelt der Leser wie in einem literarischen Trancezustand durch ein gleichermaßen fremd wie vertraut wirkendes Gelände. In Variationen tauchen wiederkehrende Personen, Ereignisse, Erzählbruchstücke und Formulierungen auf, mischen sich mit filigranen poetischen Bildern und bestechend genauen Reflexionen über das Leben und den Tod, die Kunst und die Literatur. Diese kunstvoll konstruierte Fuge aus surrealen Traumbildern ist ebenso eingängig wie suggestiv, ebenso enigmatisch wie packend. Eine handvoll Sekunden regt zum Nachdenken an und ist bei aller Rätselhaftigkeit eine berauschende Lektüre.
Aus dem Niederländischen übersetzt von Stefan Wieczorek
Gebunden, fadengeheftet, 340 Seiten
Zürich: Secession Verlag 2016
Mehr Informationen auf der Webseite des Verlages
Peter Verhelst, geboren 1962 in Brügge, ist einer der renommiertesten Schriftsteller Flanderns und der Niederlande. Er schreibt Prosa, Lyrik, Dramen und Kinderbücher. Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet; für den Roman »Tongkat« (1999) erhielt er mit der Goldenen Eule (heute Fintro Literatuurprijs) den wichtigsten Literaturpreis Flanderns – und auch 2016 war er mit Eine Handvoll Sekunden unter den Nominierten. Peter Verhelst lebt als Theaterregisseur und Schriftsteller in Brügge.
Bildnachweis: Titelbild von Veri Ivanova | Quelle: StockSnap | Alle anderen Fotos vom Autor.