Als aus Pop Politik wurde – Frank Witzel schreibt Geschichte
Wer den Roman von Frank Witzel (sei es aus Versehen oder absichtlich) zuerst hinten aufschlägt, ist verwirrt. Nanu, ein Register? Zu mehr als 900 Stichworten liefert der Autor akribisch Nachweise: von »Aal« bis »Zündplättchen«. Fiktive und reale Personen, Orte, Sachbegriffe, Schlagworte, Merkwürdigkeiten. So finden sich zu »Unterhemd« 6 Einträge, zu »Kamerad Müller« 11 und zu »Beichte« 15 Nachweise. Der Roman als Kompendium und historische Chronik; Mit diesem Register treibt Frank Witzel sein genial-aberwitziges Spiel auf die (letzte) Spitze. Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 ist herausfordernd, nachdenklich, politisch, kritisch, historisch, wild, ungezügelt, herausfordernd und vor allem urkomisch. So wurde nie zuvor über die 60er und 70er Jahre der Bundesrepublik berichtet und phantasiert, über die Zeit, in der aus Pop Politik wurde. Das Etikett »Ein Meisterwerk!« dürfte auf diesem Roman zurecht prangen.
Alles auf Anfang und dann der Reihe nach …
Der Teenager startet höchst rasant. Ein gelber NSU-Prinz liefert sich eine wilde Verfolgungsjagd mit der Polizei, von Strassensperren ist die Rede, von Kurvenfahrten mit quietschenden Reifen, von unglaublichen Höchstgeschwindigkeiten um 100 km/h (bergab mit Rückenwind!) und von Waffen. Dumm allerdings, die Erbsenpistole ist nicht geladen und nur die Wasserpistole einsatzbereit, eine präzise Waffe, die gut in der Hand liegt. Was ist passiert? Drei linken Terroristen ist der Überfall auf den örtlichen Kiosk gründlich misslungen. Die Tupamaros von Biebrich sind auf der Flucht. Wir sind im Sommer 1969 und die Rote Armee Fraktion wird erfunden … von einem Teenager.
Auf den folgenden 800 Seiten legt dieser Teenager seine Lebensbeichte ab, in 98 Kapiteln. Der Ich-Erzähler trägt den Bericht seines Lebens und Leidens vor, ohne feste Chronologie und ohne auf den ersten Blick erkennbare Struktur. Vom Sommer 1969 springt der Erzähler in die 90er Jahre und dann rückwärts in die 50er, um schließlich wieder in der Gegenwart anzukommen, abwechselnd sprechen der Teenager und der erwachsene Mann. Abgefedert werden die resultierenden Sprünge in der Perspektive und Logik der Erzählung durch insgesamt 13 Gesprächskapitel, die den wirbelnden Gedanken- und Bekenntnisstrom unregelmäßig unterbrechen. Der Teenager, bzw. der Teenager als erwachsener Mann, stellt sich im Dialog der Befragung, dem Verhör, der Analyse einer namenlosen Person, deren Funktion, berufliche Stellung oder wahre Absicht nicht aufgedeckt werden. Das Gespräch (die Gespräche(?)) ordnet und strukturiert die Lebensbeichte des Teenagers, allerdings ohne hunderprozentige Gewähr.
Die Perspektive der Provinz und die Historie
Der Teenager ist im Sommer 1969 dreizehneinhalb Jahre alt und wächst als Sohn eines begüterten Fabrikanten in einer Kleinstadt in der Nähe Wiesbadens auf. Hier tickt alles im Rhythmus der Provinz. Die (katholische) Kirche mit ihren Ritualen der Messe, der Beichte und Heiligenverehrung steht fest gemauert mitten im Dorf und steuert ebenso unerschütterlich das Denken und Empfinden in den Köpfen und Herzen. Nachrichten über politische Verwerfungen oder gar gesellschaftliche Umbrüche in der Republik, wie etwa die von den Studentenunruhen und dem Kampf gegen den Nazi-Muff unter den Talaren, erreichen die Menschen hier allenfalls verzögert und gefiltert. Aber sie kommen durch von Zeit zu Zeit und werden auch vom Teenager aufgeschnappt. Sie finden Eingang in seine Spiele und Phantasien und die seiner Schulkameraden. Was an konkreter Information fehlt, wird einfach imaginiert, Alltag, Popmusik und Politik durch den Abenteuerfleischwolf gedreht. Dreizehneinhalb, das ist das Alter, in dem sich in die kindliche Naivität langsam Spuren poltischen Bewußtseins drängen. Die Heranwachsenden erkennen, dass die Welt nicht nur aus unschuldigem Spiel besteht, dass sich außerhalb von Familie, Freundeskreis und Kleinstadtidylle etwas bewegt. Aus Fakten, Informationsfragmenten und kindlicher Fiktion schmiedet der Teenager so (s)einen Gründungsmythos der RAF, der, wie jeder historisch bewanderte Leser natürlich sofort feststellt, ein Jahr zu früh angesiedelt ist. Diese Privatmythologie zieht sich folgenschwer durch seine Biographie und determiniert sein leben.
Es musste, es konnte nur der Sommer 1969 sein, jener Sommer in dem die Beatles zum letzten Mal gemeinsam für Plattenaufnahmen im Studio standen (für das legendäre Album Abbey Road mit dem Zebrastreifenfoto auf dem Cover, an dem sich die Paul-ist-tot-Verschwörungstheorie entwickelte) und Brian Jones von den Rolling Stones im Swimmingpool ertrank (und natürlich erzählt und erfindet der Teenager auch, was wirklich am 3. Juli 1969 geschah). Die wirklich bestimmende Rolle im Leben des Teenagers aber spielt das Beatles-Album Rubber Soul, jene Platte, die vier Jahre zuvor den Abschied von der Single als kurzen Hörgenuss des Augenblicks einläutete. Rubber Soul ist angeblich eine der ersten LPs der Popgeschichte, die als Einheit konzeptioniert wurde, als Kunstwerk aus einem Stück und nicht mehr nur als eine Folge bunt zusammengewürfelter Lieder. (Übrigens: Nur an Rubber Soul waren alle Fab Four gemeinsam als Komponisten und Texter beteiligt und es war eine Beatles-LP, von insgesamt zweien, die keine Coverversionen enthielt.)
Die Sixties mögen in Berlin oder Hamburg schwungvoll und abenteuerlich gewesen sein. In der Provinz swingen sie nicht. Miltärisch streng und mitunter brutal-sadistisch sind die Erziehungsmethoden des Vaters, muffig und kleinbürgerlich ist die örtliche Realität, selbst eine Stadt wie Wiesbaden ist sehr fern. Farbe und Leben spenden nur die Fix und Foxi Hefte am Kiosk und die wenigen Beat-Scheiben, die unter den Jugendlichen kursieren, die zwei heimlich stibitzten Pornoheftchen des Freundes sind schon die größte Verwegenheit. Die Kirche und der Pfarrer diktieren das Denken und Handeln, zumindest nach außen. Das gemeinsame katholische Bekenntnis zählt mehr als individuelle Eigenständigkeit.
Musste und konnte es nur die Rote Armee Fraktion sein? Bei der Buchvorstellung antwortete Frank Witzel schmunzelnd mit einer Gegenfrage: Wären auch Titel möglich gewesen wie Die Erfindung der Mondlandung durch … oder Die Erfindung der Studentdenbewegung durch … ? Für ihn nicht. Die RAF war eine der bedeutensten Zäsuren in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik, der Name der linken Terrorgruppe und die Ereignisse des sogenannten Deutschen Herbstes haben sich zentral im kollektiven Bewußtsein festgefressen, sind aber gleichzeitig, ungeachtet aller Versuche historisch-objektiver Aufarbeitung, immer noch schwammig-subjektiv vernebelte Schlagworte. Es existieren zwar bekannte Bilder, Filmschnipsel, Ton- und Schriftdokumente, die sich eingebrannt haben, aber eine schlüssige Zuschreibung und Bedeutung läßt sich daraus bis heute nicht entwickeln. Wie beim Teenager im Jahre 1969 und beim Teenager als erwachsenem Mann in der Gegenwart, ist bei allen Deutschen jenseits der 50 der Begriff RAF permanenten Missverständnissen ausgesetzt. Genau damit spielt und jongliert Witzel in seinem – im wahrsten Sinne des Wortes – epochalen Roman.
Manisch-depressive Erfindung, Aneignung und Entwendung
Der überlange Titel des Werkes ist kein Gimmick, sondern der Schlüssel. Alle Elemente werden im Roman durchdekliniert, mehrfach. Dabei nehmen sich der Sommer 1969, der Teenager, die Rote Armee Fraktion (siehe oben) unkompliziert aus im Vergleich zur Erfindung und dem manisch-depressiven Zustand des Erzählers. Die beiden letzteren verwendet Witzel als essentielle und komplexe Werkzeuge, um die formale Struktur, die Erzählhaltung und die Sprache eines konventionellen Romans geschickt, bedingungslos und brutal aus den Angeln zu heben.
Der Teenager ist psychisch krank, zumindest psychisch auffällig. Bereits früh schließt er Bekanntschaft mit Kliniken und Ärzten, katholischen Erziehungsheimen und Internaten. Ärzte und Psychologen dringen in sein Innerstes, um zu verstehen und zu erklären, was der Teenager selbst gar nicht verstehen möchte und schon gar nicht erklären kann. Die Erfindung wird so sein Fluchtweg: kindliche Imagination und Traum sind es zunächst, im fortgeschrittenen Alter weicht die kindlich-unschuldige Einfalt dann einer immer gewagteren und intelligenteren Fiktionalisierung der gesamten Realität, die schließlich gefährliche Züge annimmt. Die Manie treibt den Erzähler an, immer weiterzudenken, zwanghaft und ohne Aussicht auf Ende; die Depression bremst ihn aus, holt ihn immer wieder zurück. So kreist er um sich, um sein Leben und die Gesellschaft, die ihn mal annimmt, mal verstößt. Schlussendlich tappt der Erzähler damit in die Falle allen linken Denkens und aller linken Extreme, mit der er dem rechts-konservativen Katholizismus entkommen möchte. Auch das extreme Denken der Linken hat manische Züge. Vom Regen geht’s in die Traufe und wieder zurück.
Und noch eine weitere Bipolarität nutzt Witzel als erzählerisches Mittel; zum Manischen und Depressiven gesellen sich Aneigung und Entwendung. Im Katholischen Erziehungsheim legt der Postulant Hans-Günter dem Teenager Rubber Soul als christliche Heilsbotschaft aus, viel später holt sich der erwachsene Teenager bei seiner Rede vom Weltgebäude der Spezialambulanz für Persönlichkeitsstörungen des Universitätsklinikums Eppendorf herab Rubber Soul wieder zurück als politische Erlösungslehre. Das ist nur ein Besipiel von vielen, in denen der Erzähler geliebte Gegenstände, Erlebnisse, Texte und Ideen in seiner fiktionalisierten Erinnerung mehrfach durchspielt und vertauscht. Und die Antonomie zieht sich bis in kleine Details wie Figurennamen. So streiten in der Jugendpsychatrie Dr. Märklin und Pfarrer Fleischmann um das Seelenheil des jungen Patienten und den richtigen Weg dorthin (Modelleisenbahn-Freunde merken sofort auf). Stones gegen Beatles, Pelikan gegen Geha, Mars gegen Milky Way … immer wieder überrascht der Roman mit solchen Pärchen.
Nicht nur inhaltlich, sondern auch formal ist das Wechselspiel von Aneignung und Entwendung zentral. Witzel läßt seinen Erzähler in unzähligen Textformen brilieren: Geschichten wie aus Indianer – oder Abenteuerromanen, Anekdoten, politische Pamphlete, philosophische Streitschriften, Hagiographien, Heiligengeschichten, theoretische Reflexionen, Bekenntnisse, Beichten und Moritaten liefern mitunter bis ins Groteske gesteigert nach und nach Details aus dem durchfiktionalisierten Leben des Teenagers. Aber dabei darf der Leser dem Erzähler niemals blind vertrauen, denn der Teenager ist unzuverlässig, fügt hier hinzu, was er dort wieder fortläßt. Mal doziert er im Slang linker Agitatoren, mal hastet er durch atemberaubende Nebensatzkaskaden oder er parodiert hier Foucoult und Lacan und dort Karl May und Jules Verne.
Frank Witzel verweigert dem Leser eine zwingende Chronologie, alles ist anachronistisch und in Teilen der Argumentation höchst widersprüchlich. Aber gerade das macht den enormen Reiz dieses Romans aus und macht ihn auch bedeutsam. Es geht um eine Bestandsaufnahme der Bundesrepublik, ausgehend von den Nachkriegsjahren und der damit verquickten Verdrängung der Kriegschuld über die autoritäre Erziehung durch Kirche und Staat und den Widerstand dagegen durch Studentenproteste, RAF und linker Extremisten bis hin zur Entwicklung von engagierten Aktivisten zu hedonistischen Utopisten und gewaltbereiter Linksextrimisten. Witzel betreibt Geschichtsschreibung, indem er Phänomen und Inhalt in einem literarischen Teilchenbeschleuniger aufeinanderzurasen und kollidieren laßt, und er liefert die Analyse dieser Kollision ab, indem er sie in urkomische Schelmenromanakrobatik verpackt. Das ist in dieser Form sicherlich anstrengend, aber ausgesprochen lohnend.
Der Teenager und die Longlist
Witzels Roman vermag durchaus die vielfach kolportierten (aber keinesfalls offiziellen) Kriterien des Deutschen Buchpreises zu erfüllen. Der Autor setzt sich mit gesellschaftlichen und/oder politischen Themen der jüngeren Geschichte unseres Landes auseinander und projeziert sie auf ein Einzelschicksal; das ist beispielhaft, relevant und diskussionswürdig. Insofern trifft Die Erfindung der Roten Armee Fraktion … die inhaltlichen Anforderungen an den typischen Longlist-Roman. Formal aber sprengt Witzel die gängigen Vorgaben: gilt doch das Experiment, das »Irre« in der Literatur und der herausfordernde Text, der die Form des linear erzählten Romans mit realistischem Ansatz hinter sich lässt, allenfalls als Ausnahme von der Regel. Andereseits konnten Autoren wie Dietmar Dath, Clemens J. Setz und auch Terézia Mora mit sperrigen und widerspenstigen Texten in der Vergangenheit durchaus Shortlistplätze erringen oder sogar den Sieg einheimsen. Wenn der Buchpreis, so umstritten er sein mag, die Vielfalt und die Qualität deutschsprachiger Romanproduktion adäquat abbilden und würdigen möchte (und meinetwegen im Nebeneffekt als geschickte Marketingmaschine die Verkaufszahlen erhöhen), dann gehören Texte wie Frank Witzels Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 zwingend auf die Longlist. Ich persönlich würde ihm sofort auch einen Platz auf der Shortlist freiräumen.
Interessant allerdings wäre es zu erfahren, das zum Abschluss, in wie weit die Wirkung dieses Romans an bestimmte Generationsfragen und -probleme gekoppelt ist. Hat Frank Witzel ein Buch speziell für die Generation geschrieben, der er selbst angehört? Wer im Jahr 1969 just 13, 14 oder 15 Jahre alt war, konnte, weil zu jung, keinen aktiven Part im politischen Aufbruch durch die Studentenbewegung übernehmen, war aber alt genug, sehr wohl wahrzunehmen, dass da etwas passierte im Land. Mir jedenfalls ging es so, obwohl ich gut sechs Jahre jünger bin als Witzel und sein Protagonist, der Teenager. Ich erinnere sehr gut, wie hitzig die Diskussionen Mitte der 70er Jahre über die RAF und extrem-linke politische Ziele mit der Elterngeneration verliefen. Damals traf die Nachkriegsgeneration auf ihre mündig werdenden Kinder. Wie sieht das heute aus? Was fangen Leser im Alter von heute 18 bis 20 Jahren (also die Generation nach der Generation nach der Nachkriegsgeneration) mit diesem Text an? Ich fürchte, RAF, linker Terror, Studentenrevolte und politisch-kritischer Aufbruch und Diskurs sind ihrer Lebensrealität sehr, sehr fern, und Witzel liefert ihnen mit dem Teenager kaum mehr als einen Bericht über weitzurückliegende Ereignisse der bundesdeutschen Geschichte, also eine Art hitorischen Roman.

Roman
Gebunden, 800 Seiten
Berlin: Matthes & Seitz Berlin 2015
Erste Lektüreeindrücke liefert zum Roman auch der Buchpreisbloggerkollege Uwe Kalkowski im Blog Kaffeehaussitzer. Weitere lesenswerte Rezensionen schrieben Jan Drees (hier auf lesenmitlinks) und Thomas Hummitsch (hier auf intellectures).