Generationen und Kontinente – Die Unamerikanischen von Molly Antopol
Es ist verblüffend. Die Vereinigten Staaten von Amerika bringen immer wieder neue, großartige Schreibtalente hervor. Vielleicht wird jenseits des Atlantiks das literarische Schreiben und Erzählen mehr als Handwerk begriffen, als hier bei uns im »Alten Europa«. Creative Writing, in Deutschland gerne verpönt und belächelt, gehört in den USA an vielen höheren Schulen und Universitäten zu den Pflichtfächern. Talente werden so früh entdeckt und entsprechend gefördert. Schreiben zu unterrichten, ist für viele etablierte Autoren nicht nur willkommener Broterwerb, sondern innerstes Bedürfnis. Zu den vielen Newcomern, die aus den Creative-Writing-Schulen mit großen Schritten ins Kernland der us-amerikanischen Literatur vordringen, gehört auch Molly Antopol, Jahrgang 1979. Ihr Erzählband Die Unamerikanischen wurde in den USA vom Großteil der Kritik hymnisch gefeiert und Hanser Berlin hat in der Übersetzung von Patricia Klobusiczky nun eine deutsche Ausgabe der Sammlung herausgebracht. Mögen ihr viele deutsche Leser beschert sein.
Die Figuren in den insgesamt acht Erzählungen Antopols sind »unamerikanisch«, weil sie zwar in den USA leben, arbeiten und mehr oder minder gut zurecht kommen, aber im Herzen doch nie wirklich angekommen sind. Die Erinnerungen an ein anderes Land, an eine andere Kultur sind tief in ihre Seelen eingegraben, selbst dann noch, wenn die Familien bereits seit Generationen in den New York, Los Angeles oder anderen US-Städten leben. Es sind zumeist jüdische Emigranten aus Osteuropa, aber einige Geschichten spielen aber auch in Israel.
Da ist ein älterer Besitzer einer Reinigungskette, der es als Sohn von Einwanderern zu leidlichem Wohlstand gebracht hat, und der zum Schrecken seiner Kinder im Alter eine Ukrainsche Witwe heiratet. Doch bei der Hochzeitsreise nach Kiew stellt sich heraus, dass die Ehefrau ihren verstorbenen, ersten Mann einfach nicht aus ihrem Leben entläßt. Da ist der ehemalige Prager Dissident und Schriftsteller, der inzwischen von Frau und Tochter getrennt lebt. Nun, da die Broadwaypremiere des ersten Theaterstückes seiner Tochter ansteht, versucht er verzweifelt herauszubekommen, welches Vaterbild sie darin zeichnet. Da ist die Großmutter, die, von ihrer Enkelin gelöchert, erzählt wie es war, als jüdisches Mädchen dem Ghetto zu entrinnen und in Weißrussland als Partisanin gegen die Nazis zu kämpfen. Da ist ein Schauspieler, der ins Visir des McCarthy-Komitees gegen unamerikanische Umtriebe gerät und nach seiner Haftentlassung mit seinem zehnjährigen Sohn durch Kalifornien fährt. Da ist ein jüdischer Soldat, der bei einem Traktorunfall daheim im Kibbuz ein Bein verliert und dessen Freundin daraufhin die lange geplante Reise in ein kalifornisches Meditationscamp mit seinem Bruder antritt.
Egal welche Konstellation zu Beginn einer Erzählung vorliegt, entscheidend ist, dass beinahe alle Figuren eine kleine oder große Lebenslüge mit sich herumtragen. Im Streben nach Anerkennung und wirtschaftlichem Aufstieg haben sie sich ihre Vergangenheit (oder die ihrer Vorfahren) zurechtgebogen, Brüche und Zweifel beiseite gewischt. Sie meinen, ihren amerikanischen Traum zu leben. Sie glauben angekommen und heimisch zu sein im neuen Land, aber die Wurzeln in der alten Heimat lassen sich nicht restlos kappen. Als seien sie mit einem Generationenvertrag besiegelt, werden Familiengeheimnisse und -schicksale mitgeschleppt. Die Vergangenheit läßt sich partout nicht vergraben oder vergessen. In jeder Geschichte ist es ein kräftiger Anstoß von außen, der die alten Wunden schließlich aufreißt und eine Ereigniskette in Gang setzt. An deren Ende steht meist Einsicht und Erkenntnis, offen bleibt aber mitunter, ob auch Veränderung und/oder Läuterung.
Die Erzählungen sind jeweils zwischen 40 und 60 Seiten lang, und alle springen unvermittelt ins Geschehen. Molly Antopol versteht es blendend, mit knappen, prägnant zielsicheren Worten die Schauplätze und Figuren zu umreißen und glaubhaft mit Leben zu füllen. Selbst wenn die Handlungen mit Zeitsprüngen über drei Generationen hinweg jonglieren, hält Antopol alle Fäden souverän in der Hand und spult ihre Geschichten traumwandlerisch sicher ab. Einen leicht sentimentalen Ton hat das hin und wieder, nimmt den Sepiaton alter Fotografien an oder ist dramaturgisch routiniert angelegt und geschnitten wie eine Vorabendserie, eine gute wohlgemerkt. Kurz: Antopol greift zwar tief in die Trickkiste der Erzählkunst, schreibt konzentriert auf den Punkt, präzise und versiert, aber dem Leser fallen die technischen Kniffe niemals auf. Es sind fesselnde Geschichten, beinahe kleine Romane, mit Tiefgang und mit viel Gefühl, aber sie sind niemals gefühlig.
Vielleicht gelingen Molly Antopol diese generationsübergreifenden Einwanderergeschichten so gut, weil sie diese Art Geschichten und dieses Gefühl der Heimatlosigkeit aus ihrer eigenen Familie und dem Freundeskreis gut kennt. Sie selbst hat weißrussische Wurzeln, lebte zeitweilig mit ihrer Mutter in einer Kommune an der Ostküste und pendelt heute im Halbjahresrhyhtmus zwischen San Francisco und Israel. Wie sehr historische Ereignisse, politische Umbrüche und das Kosmopolitische in die Familienstrukturen einzugreifen vermag, weiß Antopol nur zu gut aus eigener Anschauung. Biografische Bezüge sind daher in einigen der Geschichten sicher zu vermuten.
Um noch einmal auf den Eingangsabschnitt zurückzugreifen: Die Unamerikanischen von Molly Antopol sind Creative Writing der besseren, ja, ich behaupte verwegen, sogar der besten Sorte. Die Autorin hat mittlerweile einen großen Roman angekündigt, auf den nicht nur ich gespannt warten werde. Molly Antopol ist ein großes Erzähltalent.
Gelesen habe ich das Buch nicht zuletzt aufgrund nachdrücklicher und stetig wiederholter Empfehlung von der Klappentexterin. Mit ihrem Blog gehörte sie zu den ersten, die Die Unamerikanischen sehr lobend rezensiert hat. Bei Fixpoetry findet sich eine weitere lesenswerte Besprechung und auch im Bücherwurmloch wird man fündig.

Aus dem amerikanischen Englisch von Patricia Klobusiczky
Gebunden, 320 Seiten
München: Hanser Berlin 2015

Leseprobe auf den Seiten des Hanser Verlages.