»Da war ich hin und weg« – Schmidt=Leser bekennen und berichten
Ein Leser dieses Blogs schenkte mir vor einiger Zeit das Sammelbändchen Da war ich hin und weg als Reaktion auf meinen Bargfeld-Reisebericht Gummistiefel erforderlich (er hatte das Bändchen doppelt im Bestand). Ausserdem hatte auch er darin über »Arno Schmidt als prägendes Leseerlebnis« geschrieben und eine eigene Pilgerfahrt nach Bargfeld geschildert. Rudi Schweikart hatte den Band mit 100 Statements und Geschichten 2004 in der Schriftenreihe der Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser (GASL) herausgegeben. Darin erzählen Leser, auf welchen Haupt- und Nebenwegen (auch auf Umwegen) sie zum Werk Arno Schmidts gekommen sind und warum sie ihm treu blieben. Heute, an Schmidts 102. Geburtstag, schreibe ich meine Ergänzung ins Buch, wer’s hören mag, fahre fort.
Zum ersten Mal bewußt begegnet bin ich dem literarischen Werk Arno Schmidts im Frühjahr 1985. Der sehr junge Haffmans Verlag hatte seine Kooperation mit der ebenfalls noch recht jungen Arno Schmidt Stiftung aufgenommen und als erste sichtbare Frucht der Zusammenarbeit gelangte die Zürcher Kassette in den Handel. Acht ocker=gelbe Bände in einem papp=braunen Schuber. In einer Buchhandlung prominent plaziert stach mir diese Kassette sofort ins Auge. Als Student der Literaturwissenschaft (nun ja, zumindest im Nebenfach, aber immerhin bereits im 5. Semester) und als seit Teenagerjahren erprobter Bücherverschlinger war mir der Name Schmidt zwar geläufig, aber gelesen hatte ich von ihm noch nichts. Es sollten Verbindungen bestehen zwischen Schmidt und James Joyce, den ich seit der ersten heißhungrigen Lektüre des Ulysses im zart-überforderten Alter von 16 inbrünstig verehrte. Das reichte als Impuls. Weniger aus Neugier auf die Texte als aus Gier auf eine weitere beeindruckende Trophäe für den Bücherschrank erwarb ich die Kassette (auch wenn sie ein gehöriges Loch in die Finanzen des armen Studenten riss). Schmidt ist wichtig, einzigartig und nur der wahre Literaturkenner kennt und schätzt ihn, so hatte ich es raunen hören. Ich wollte dazugehören, zur verschworenen, kleinen Schar der Kenner. Gleich die ersten gelesenen Zeilen faszinierten:
Nichts Niemand Nirgends: Nie ! : Nichts Niemand Nirgends Nie ! : (die Dreschmaschine rüttelte schtändig dazwischen, wir konnten sagen & denken was wir wollten. Also lieber bloß zukukken.)
»s’ dollaus. – « ; und ihr Fuß zeigte liederlich eben=dort hinüber : ein Knecht hob 1 Arm, (vorn=dran also vermutlich 1 Faust) : sofort rieselte 1 Kette dazwischenzusammen. / (Und die Luft zwischen Uns & Ihm trübgrau aus Niesel, trübgelb aus Kaff; (von dem sich schon 2 überlebensgroße Schpitzkegel gebildet hatten; : »Tütenzelte von Seleniten.« ; und es schprühte immer noch auf sie: und schtäubender Schall und Gemurre.).)
Hier sprach und schrieb einer, wie ich es zuvor noch nie vernommen hatte, hier entwarf einer Bilder und Welten, die fremdartig und antiquiert wirkten und doch wieder alltäglich-heutig vertraut. Bald jedoch machte die Begeisterung Ernüchterung Platz. Heute weiß ich, ich hatte mit Kaff auch Mare Crisium für den Einstieg den falschen Band aus der Kassette gezogen. Das onomatopoetische Kauderwelsch aus Hoch- und Plattdeutsch, Englisch und kraftmeiernder Lautmalerei enthüllte auf Anhieb wenig Gehalt, kaum einen Sinn der Geschichte. Sie spielte halb auf der Erde in einem Kaff in Norddeutschland und halb auf dem Mond nach einem Atomkrieg, war auch in höchstem Maße sexuell aufgeladen, soviel hatte ich begriffen, aber was hatte das mit mir zu tun? Ich brach ab. Das war mir zu anstrengend. Natürlich habe ich mein Scheitern eisern verschwiegen, tat nach aussen wie ein erfahrener Schmidtleser. (Ich bekenne mich nachträglich der literatur=kennerischen Protzerei schuldig.)
Erst der Rat eines Schmidt-bewanderten Komilitonen brachte mich einige Zeit später wieder in die Spur. Ich solle es zunächst mit der Trilogie Nobodaddys Kinder versuchen, oder mit den tiefenpsychologisch-aufgeladenen an Sigmund Freud geschulten lendlichen (sic!) Kurzgeschichten aus dem Band Kühe in Halbtrauer, auch die Tina sei gut für den Einstieg, dann der Fälscher- und Interzonenkrimi Das steinerne Herz. Der Hinweis war Gold wert. Ich fand hinein in die schmidtsche Sprach- und Gedankenwelt. Nach und nach verschlang ich alle Bände der Kassette und auch Kaff bereitete im zweiten Anlauf dann kaum noch Schwierigkeiten.
Aber was genau begeisterte mich? Nun, Schmidt ist ein Schriftsteller der wie kaum ein anderer dem einfachen Volk aufs Maul geschaut hat und aus dem, was er ablauschte, große Literatur formen konnte. Die exakte Abbldung der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit, das Trauma des Krieges, die Angst vor Wiederaufrüstung und die Bedrohung durch den Kalten Krieg vermischte Schmidt mit der Sprachwucht des Expressionismus, mit zarten Formulierungen der Romantiker und hartem Realismus. Schmidts Zunge ist scharf, seine Feder spitz, seine Sprache unverwechselbar. Orthografie und Interpunktion werden bei Schmidt zu Werkzeugen der sprachlichen Gestaltung, verlieren in seinen Texten jegliche Regelhaftigkeit. Ja, er protzt mit seiner Könnerschaft, versucht sich immer wieder selbst zu überbieten, nervt bisweilen auch mit tatsächlichen und/oder behaupteten Kenntnissen der Literatur, Philosophie und Geschichte vor ihm, er kanzelt ab und hebt in den Himmel. Seine (mitunter barschen) Uteile sind nicht immer nachvollziehbar, werden aber überzeugt=kraftvoll vorgetragen. Und, das ist vielleicht das wichtigste, seine Texte sind hinter aller Knorrigkeit und Verbissenheit oft sehr lustig und humorvoll.
Bei jedem neuen Lektüredurchgang finde ich bei Schmidt Klein- und Kleinigstgkeiten, die mir bislang verborgen geblieben sind, der Spaß am Entdecken bleibt nach Jahren ungebrochen. So sehr einem der schmidtsche Ton auch vertraut sein mag, er klingt immer wieder frisch und unverbraucht. Je größer die Detailkenntnis der Werke wird, desto mehr Verästelungen, Querverweise und Verbindungen zeigen sich. Das hält mich gefangen, fasziniert stets aufs Neue.
Die Zürcher Kassette mit dem (veröffentlichten) erzählerischen Werk bis Zettel’s Traum brachte Schmidt mitte der 1980er Jahre wieder ins Gespräch. Bis dato war er nur in mäßig sorgfältig editierten, obendrein schlecht gedruckten und geleimten Fischer-Taschenbüchern greifbar. Der S. Fischer Verlag reagierte damals auf Haffmans mit einer Reihe von Hardcover-Reprintausgaben älterer Schmidttitel, nicht zuletzt um im erbittert ausgefochtenen Streit um die Veröffentlichungsrechte am Werk eigene Ansprüche anzumelden (S. Fischer war der Rechtsnachfolger des Stahlberg Verlages, in dem Schmidt zuletzt beheimatet war). Juristische Details und verschiedenste, widersprüchliche Gerichtsentscheidungen sollen hier keine Rolle spielen. Nur so viel, das Recht zu einer geschlossenen, neuen und vollständigen Werkausgabe lag unbestritten bei der Stiftung (und dem ihr verbundenen Haffmans Verlag in Zürich).
Es folgte so auf die Zürcher Kassette die Bargfelder Ausgabe der Werke. Band für Band, Werkgruppe für Werkgruppe erstand und sammelte ich sie über den langen (alle vorab in Editionsplänen gesetzten Zeitpläne sprengenden) Verlauf ihres Erscheinens. Dort stieß ich dann in der Werkgruppe zwei auf Schmidts Funkessays. Eine neue Welt tat sich auf. Diese für den Hörfunk geschriebenen Dialoge sind vom erzählerischen Werk kaum zu trennen, hier wurde mir Literaturwissenschaft wie Fiktion präsentiert, Philologie in angeregte Streitgespräche verpackt. Schmidt holt bekannte und unbekannte Altvordere aus der Versenkung und spielt gekonnt mit ihren Texten und Biographien, dass es ein pure Freude ist. Ähnlich begeistert stürzte ich mich später auf seine Essays und Aufsätze, die er als überlebensnotwendige Brotarbeiten für Zeitungen und Zeitschriften verfasst hatte. Zu erleben wie Schmidt als Grenzgänger zwischen Belesenheit und Kenntnis auf der einen, sowie Verbissenheit und Besserwisserei auf der anderen Seite Literatur (die der anderen und seine eigene), Zeitgeschehen und Alltag kommentiert, bewertet und zur eigenen Tätigkeit in Relation setzt, ist immer wieder ein Gewinn.
Die mächtigen, monolithischen Typoskripte des Spätwerks schließlich sind literarische Berg=Massive, die erfahrene Kletterer erfordern, aber sie sind bezwingbar, und auch sie bieten bei allen Schroffheiten und gefährlichen Abbruchkanten dem mutigen Wanderer viele schöne Ausblicke und Panoramen. Zettel’s Traum freilich bleibt in seiner Monströsität nach wie vor unlesbar, zumindest im Ganzen, dabei bleibe ich. Obwohl, zahlreiche schöne Stellen lassen sich auch hier finden.
Mein Fazit als literaturwissenschaftlich geschulter Leser müsste lauten: Schmidts Werk lebt von seinem humanistischen Nonkonformismus, den er mit geschichtsphilosophischem Pessimismus und einem tief-wurzelnden Zweifel an der Spezies Mensch paart. Aber das steht bei meiner wiederholten Immer-wieder-neu-Lektüre gar nicht im Vordergrund. Es ist primär die Sprachkraft, die mich lockt, sein Erzählen in deskriptiv-räsonierenden Kleinszenen, das Alltagsbeobachtungen wunderbar=genau einfängt und mal tiefernst mal absurd überformt. Bei Schmidt finde ich alles, von wunderbaren albernen Wortspielen bis zu komplex-komplizierten vielsprachigen Strukturen. Ich bleibe ihm treu, denn, da bin ich mir sicher, es gibt noch viele unbekannte Ecken und bislang übersehene Winkel in seinem Werk zu entdecken, viele weiße Flecken im Schmidt-Kosmos.
Arno Schmidt als prägendes Leseerlebnis
100 Statements und Geschichten
Broschur, 368 Seiten
Wiesenbach: Bangert & Metzler, 2004
Zu beziehen über die Gesellschaft der Arno Schmidt Leser (GASL)
Leider hat der Haffmans Verlag nicht überlebt. Die Bargfelder Ausgabe der Werke und alle anderen von der Arno Schmidt Stiftung herausgegeben Bücher erscheinen nun im Suhrkamp Verlag. Hier die Autorenseite zu Arno Schmidt. Schmidt bleibt und ich bleibe bei Schmidt. Auch künftig wird in diesem Blog deshalb weiteres über ihn zu lesen sein.