»My life? : A tablet full of snapshots!« – Arno Schmidt. Eine Bildbiographie
Jeder vergleiche sein eigenes beschädigtes Lebensmosaik; die Ereignisse springen: grundsätzlich ergibt sich durch unsere mangelhafte Gehirnleistung mit ihrem »Vergessen« eine poröse Struktur unseres Daseins: die Vergangenheit ist uns immer ein Rasterbild.
Hier liegt es vor uns, das aus dem Vergessen gerissene Rasterbild einer Schriftsteller=Existenz. Ein Leben das zwei Drittel eines Jahrhunderts umfasste. Das Leben Arno Schmidts wird aufgeblättert (auf 455 Seiten) und aufgelöst in (mehr als 850) einzelne Mosaikstückchen. Es ist ja so: der Leser will seinen Autor nicht nur durch seine Werke kennenlernen. Auch wenn in den veröffentlichten Texten, das wesentliche versammelt sein mag, das der Schriftsteller seiner Mit- und Nachwelt als mitteilungswürdig erachtete, schielt der Leser doch gerne darüberhinaus auf die biographische Lebensbahn des verehren Dichters und Denkers, möchte mehr erfahren über seine Leidenschaften und Abneigungen, über Stationen und Strecken des Lebensweges und, durchaus mit besonderer Neugier, auch über Details des schlicht-schnöden Dichter-Alltags informiert sein.
In Arno Schmidt. Eine Bildbiographie wird eine einzigartige und in der deutschen Nachkriegsliteratur beispiellose Schriftstellerexistenz materiell, sozial, psychologisch durchleuchtet und erhellt.
Has’D alles voller Bücher & Bilder – zeig mal ’n paar.
Egal welcher Grad der Neugier uns dieses biographische Bilderbuch aufschlagen läßt, wir werden es am Ende reich beschenkt und befriedigt wieder zuschlagen. In besonderem Maße hat Arno Schmidt Alltag und Lebensumfeld immer wieder auch als Material für seine Romane und Erzählungen verstanden. Mehr noch; nicht selten ordnete er sein Leben strikt dem Werk unter, sehr zum Unmut mitunter seiner Ehefrau, seiner (wenigen) engen Freunde und Vertrauten. Das Werk freilich, das unter strenger Selbstdsiziplin und mit eiserner Schufterei der Alltagsexistenz abgerungen wurde, steht einzigartig da in der literarischen Landschaft Nachkriegsdeutschlands. Schmidt ist überdimensional, ja extradimensional, nicht nur in den Formaten seiner Typoskript-Romane des Spätwerkes, nicht nur stilistisch in allen Werkphasen, in frühen, mittleren und späten, sondern auch in der Organisation seines Lebens. Einerseits war das über weite Strecken von Entbehrung, Zweifel und Existensnot geprägt, andererseits von Trotz, Beharrlichkeit und Hybris. Warum und wie, wird hier sorgfältig inszeniert vorgeführt.
Dank der konzisen Einführungstexte, die Bernd Rauschenbach in einem perfekt zwischen locker-leicht Lesbarkeit und wissenschaftlichem Anspruch ausbalancierten Ton verfasst und den nach Wohnorten geordneten Kapiteln vorangestellt hat (»Ich bin nun mal im erschreckenden Maße vom O r t abhängig.«), dank vieler Zitate aus Werken, Briefen und Tagebüchern, die den Abbildungen, Fotos und reproduzierten Dokumenten erläuternd und weiterführend beigefügt sind, erwächst immer wieder der Wunsch, ad fontes zurückzukehren: also nach den Werken Schmidts zu greifen und dort weiterzulesen.
Schmidt-Neulinge finden hier einen wundervoll aufbereiteten Einstieg, Schmidt-Kenner werden neben vielem Bekannten auch viel neues entdecken. Mag die überwiegende Mehrheit der Fotos und Abbildungen zuvor bereits an verstreuten Orten publiziert worden sein, hier ist erstmals alles, wirklich alles und einiges mehr, vereint zwischen den Deckeln eines prächtig gestalteten Buches.
»Q u e l l e ?« : Hallt=ßtopp!: Also da ’ss’n kulltourhistorisches Dokumännt!
Bilder aus Versandkatalogen sammelte Arno Schmidt in Material-Mappen, ebenso Zeitungsausschnitte und Postkarten, er zeichnete Landkarten und Stadtpläne, ordnete unzählige Notizen in den berühmten Zettelkästen. Selbst Fernsehzeitungen, in denen die Sendungen markiert wurden, die die Schmidts gemeinsam angeschaut hatten, wurden archiviert. Kurz: Arno und Alice Schmidt waren manisch=akribische Sammler. Was sie hinterließen, darunter Banalitäten wie Lebensmittel-Ettiketten und Fahrkarten, aber auch Essentielles, wie Relikte einer Art Privat-Mythologie des Alltags und einer an mitunter schrullig-abergläubischen Kriterien ausgerichteten Lebensführung, sicherte die (glücklicherweise zur rechten Zeit) im Jahr 1981 gegründete Arno-Schmidt-Stiftung. So konnte Fanny Esterházy als Herausgeberin für diese Bildbiographie aus dem Vollen schöpfen. Fehlendes fand sich in anderen Archiven, Bibliotheken und Sammlungen.
Liebevoll komponiert: jede Doppelseite erzählt eine kleine Geschichte oder Episode in Bildern und Zitaten.
Nach welchen Kriterien das vorgefunden Material geordnet und wie es präsentiert wurde, erläutern Fanny Esterházy und der Buchgestalter Friedrich Forssman, sowie Bernd Rauschenbach und Susanne Fischer von der Arno Schmidt Stiftung ausführlich in diesem Film von Stefanie Ritter. Unbedingt anschauen, denn zu sehen sind unter anderem sehr viele Beispielseiten aus dem Buch.
Ich verlange, gesetzgeberisch festzulegen, daß spätestens 50 Jahre nach dem Tod eines Schriftstellers seine Biographie nicht nur erscheinen darf, sondern muß! (…) Und wer künstlich dafür gesorgt hat, daß der große Mann ein »weißer Fleck« bleibe; wer uns bewußt ganze Hektare von Urkunden vorenthielt, daß sie in Kisten auf Dachböden vermodern, (…) Der – ich bediene mich gern der volkstümlichen Wendung – »Der müßte bestraft werden«!
Wie alle Lebensläufe ist auch der Arno Schmidts kein Kontinuum; doch es lassen sich durchaus Kontinuitäten entdecken. Was Vorteil einer Bildiobiographie ist, nämlich die Einladung, vor- und zu zurückzublätterm, zu schauen, zu springen, sich hier oder da festzulesen, ist gleichzeitig ihr Manko. Eine Bildbiographie hat Lücken, wertet nicht, ordnet nicht ein und zieht keine Verbindungen und Schlüsse. Das leistet nur ein klassiche Biographie.
Solange diese »klassiche Biographie« aber nicht vorliegt, ist und bleibt Arno Schmidt. Eine Bildbiographie das bislang umfassenste und profundeste biographische Projekt zu Schmidt. Es existieren mehrere kleinere Versuche zu biographischen Arbeiten. Die bislang umfangreichste, die (inzwischen vergriffene) rororo-Monographie von Wolfgang Martynkewicz, zeichnet Schmidt allzu bärbeißig und die welt hassend und ihr entfliehend. Auch dieses schiefe und im übrigen zu unrecht weit verbreitete Bild rückt die Bildbiographie gerade und zeigt, dass Schmidt sehr wohl auch humorvoll und umgänglich sein konnte.
Die große, wirklich umfassende Biographie zu Arno Schmidt bleibt weiter Desiderat. Aber noch ist Zeit, bevor die von Schmidt gesetzte 50-Jahrefrist verstrichen sein wird. Die vorliegende Bildbiographie entschädigt bis dahin und ist gleichzeitig eine wertvolle Vorarbeit. Sie wird kommenden Biographen Hilfe und Leitlinie sein, ja, sein müssen.

Herausgegeben von Fanny Esterházy
Mit einführenden Texten von Bernd Rauschenbach
Gebunden, Halbleinen, Fadenheftung, 456 Seiten im Format Din A4 mit 850 farbigen Abbildungen
Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung
Berlin: Suhrkamp Verlag 2016
Mehr Informationen zum Buch auf der Webseite des Suhrkamp Verlages