William’s World – Die Welt mit Shakespeares Augen sehen
Lesen, was Shakespeare gelesen hat, und sehen, was Shakespeare gesehen hat. Auf diese griffige Formel läßt sich die Absicht hinter dem vorliegenden Prachtband reduzieren. Wobei hier alles andere als Beschränkung herrscht. Der Herausgeber Günter Jürgensmeier schüttet ein literarisches und kulturhistorisches Füllhorn aus, auf 640 großformatigen, zweispaltig gedruckten und reich bebilderten Seiten.
Der Titel Shakespeare und seine Welt ist bei näherer Betrachtung freilich irreführend. Nicht die Biographie des Barden von Stratford, sein Leben und Werk stehen im Vordergrund, sondern die Quellen, aus den er schöpfte, das Material, das er aufgriff und zu den zeitlosen Dramen umformte, die ihn in den Augen nicht weniger zum größten Dramatiker aller Zeiten reifen ließen. Shakespeare war kein Originalgenie, nur naive Leser mag das überraschen. Er hat, wie viele vor und nach ihm, auf das zurückgegriffen, das bereits vorlag. Wie in den Naturwissenschaften gilt auf auf dem Feld der Kunst und Literatur, dass alles Neue nur entstehen kann, dass aller Fortschritt nur erzielt wird auf den Schultern von Riesen. Shakespeare verdankt seine Kunst somit einem evolutionärem Prozess, aber war kein Plagiator.
Shakespeare war als Teilhaber der größten Londoner Theatercompagnie des 17. Jahrhunderts nicht nur Künstler, sondern auch ein umtriebiger Geschäftsmann, der gezwungen war, ständig neue Stoffe für die Bühne herbeizuschaffen. Mit unnachahmlichem Gespür für dramatische Kerne suchte und fand er in den Vorlagen die großen menschlichen Konflikte, die seine Stücke so unverwechselbar machen. Er reicherte die Stoffe an mit eigenen Ideen und Inspirationen. Wer Quellen und Dramen nebeneinanderlegt und sorgfältig studiert, lernt viel über seine Arbeitsweise. Shakespeare, das beweist dieses Sammlung, muss ein sehr belesener und hoch gebildeter Mann gewesen sein.
Zu Shakespeares Quellen gehörten neben den Klassikern, wie etwa Ovid und Homer, auch Geschichtswerke der Antike, frühere Theaterstücke, italienische Novellen, frühe spanische Romane, Sagen der europäischen und nordischen Mythologie, Reisebeschreibungen, Chroniken, Nachrichten über Schiffsunglücke oder andere Katastrophen und zeitgenössische Erzählungen. Die unglaubliche Spannweite der Formate und Stile ist beeindruckend. Und doch hat Shakespeare sich nicht auf den Vorlagen ausgeruht, sondern die aufgegriffenen Stoffe mit seiner ihm eigenen Kreativität unverwechselbar umgestaltet. Einige dieser Quellen sind durchaus bekannt, etwa die nordische Hamlet-Sage Amleth oder Arthur Brookes Verserzählung The Tragicall Historye of Romeus and Juliet. Aber es ist höchst überraschend, wie Shakespeare dieses eher spröde Epos zur wohl zeitlosesten Liebestragödie überhaupt umgestaltet hat. Und Romeo und Julia ist auch ein Beispiel dafür, dass sich Shakespeare mitunter nicht nur auf eine Vorlage gestützt, sondern auf zahlreiche Fassungen eines Stoffes zurückgegriffen hat. Selbst versierte Shakespeare-Kenner werden hier immer wieder Neues und Überraschendes entdecken.
Erstmals liegen nun alle Quellen Shakespeares in einem Band versammelt und in deutscher Sprache vor. Der Herausgeber Günter Jürgensmeier hat dieses Material in mehr als zehnjähriger Forschung zusammengetragen. Aufgenommen wurden in den Band nur die Texte, die in der Shakespeare-Forschung als zweifelsfrei gelten. Doch Jürgensmeiers Leistung für Shakespeare und seine Welt liegt nicht nur in der akribischen Arbeit als Sammler und Quellenforscher. Um dem möglichst nahe zu kommen, was Shakespeare gelesen hat, überarbeitete Jürgensmeier zahlreiche deutsche Übersetzungen und fertigte einzelne neu an. Ziel war es, den Ton und die Form der englischen Texte (und Übersetzungen) des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts möglichst genau zu treffen. Aus dem gleichen Grund sind in einigen Fällen auch nicht die bekannten und verbreiteten deutschen Übersetzungen der Originaltexte abgedruckt. Jürgensmeier entschied sich für Fassungen, die den Leser mitunter zwingen, den Kern der Stoffe von der Hülle einer fremden und alterthümlichen Sprache mühsam entkleiden müssen.
Jürgensmeier leitet seine Quellensammlung mit einer biographische Skizze ein, in der alle Fakten zu Shakespears Leben (und auch zu seinem möglichen Aussehen) aufgenommen wurden, die verlässlich sind. Ferner verfasste der Herausgeber zwei erhellende Essays, in denen das London Shakespeares (»Von der einen Seite sieht man eine schöne Jungfrau, von der anderen Seite ein hässliches Ungeheuer« (Der Puritaner Thomas Adams)) und die Theaterlandschaft seiner Zeit vorgestellt werden. Am Ende dann noch ein umfangreiches Quellenlexikon und eine ausführliche Zeittafel. Mit diesen Zugaben, läßt sich das ausgebreitete Material trefflich durchsuchen, aufschließen und einordnen.
Das Format? Natürlich ein Folio, was sonst wäre Shakespeare gerecht geworden. Jedem Drama (oder Verserzählung) und seinen Quellen ist ein (knapp-instruktiv eingeleitetes) Kapitel gewidmet, geordnet in der (mutmaßlichen) Chronologie der Entstehung. Damit der Großband nicht zur bleiernen Textwüste geriert, hat Jürgensmeier ihn reich bebildert. Das besondere hier: bis auf wenige (an einer Hand abzählbarer) Ausnahmen stammen alle Bilder aus Shakespeares Zeit. Alle Gemälde, Stiche, Landkarten, Stadtansichten, Porträts, insgesamt mehr als 500 historische Abbildungen, hat Shakespeare möglicherweise gesehen. Ausgewählte Faksimili einzelner Büchseiten und Titelblätter, sowie Illustrationen aus zeitgenössischen Ausgaben belegen die reiche und charakteristische Ästhetik der Buchkunst der Renaissance.
So wurde Shakespeare und seine Welt zu einem prachtvollen und einzigartigen Buch, das sicher nicht in einem Rutsch gelesen wird. Das Jürgensmeiersche Folio lädt vielmehr zum wiederholten Blättern und Festlesen ein, dient als Generalschlüssel zu Shakespearses dramatischen Werken und ist beredte Aufforderung, sich den Dramen nochmals mit gesteigerter Neugier zu nähern. Alle Zweifel daran, ob Shakespeare gelebt hat, und wenn ja, wieviele er war, werden hier ausgeräumt. Ein Buch, das jeder Shakespeareleser seiner Bibliothek hinzufügen sollte.
Gesammelt, bearbeitet und vorgestellt von Günter Jürgensmeier
Folioformat, vierfarbig gedruckt, mit mehr als 500 Abbildungen
Gebunden, Leinen, mit Halbschlaufe, ca. 640 Seiten
Berlin: Galiani Verlag 2016
Mehr Informationen zum Buch und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
Günter Jürgensmeier, geboren 1957, arbeitet als freier Lektor, Setzer und Übersetzer in München. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er bekannt durch Übersetzung und Satz von aufwendig gestalteten Kinderbüchern wie Gullivers Reisen, Moby-Dick oder Don Quijote, Prachtausgaben von Grimms Märchen und Laurence Sternes Tristram Shandy, die Digitalisierung der Werke Arno Schmidts sowie die Mitarbeit am Satz von Zettel’s Traum. Er ist einer der führenden Quellenkundler für das Werk Arno Schmidts.