Einstecken und austeilen – »Ellbogen« von Fatma Aydemir
Wer immer nur die Ellbogen der anderen in die Rippen gestoßen bekommt, teilt irgendwann selber aus. Hazal, die Icherzählerin in Fatma Aydemirs Debütroman Ellbogen, ist eine, die viel einstecken muss. Zumindest empfindet Hazal das. Sie ist in Deutschland geboren, kurz nachdem ihre Eltern aus der Türkei in den Berliner Wedding gezogen sind. Hazal ist klug, aber kommt nicht voran. Sie schreibt hunderte Bewerbungen, ohne Erfolg. Sie hockt vormittags in einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme und jobt nachmittags in der Bäckerei ihres Onkels. Wären da nicht ihre drei Freundinnen, verliefe Hazals Leben unter der Glocke des von Gehorsam und Tradition geprägten Elternhauses glück- und lieblos.
Zusammen mit der Bosnierin Elma, der taffen Wortführerin der Clique, Gül, die immer zu viel Glitzerschminke im Gesicht und zu kurze Röcke auf den Hüften trägt, will Hazal ihren 18. Geburtstag feiern. In einem angesagtesten Clubs der Stadt. Es soll der Abend ihres Lebens werden. Eigentlich gehört noch Ebru zur Gruppe. Aber Ebru geht nicht in Clubs. Sie trägt Kopftuch und hat sich selbst ein wenig ins Aus geschossen, als sie nach den Anschlägen von Paris bei Facebook gepostet hat: »Gut so. Jeder bekommt, was er verdient.«
Die vier haben Träume, sie hoffen auf eine Zukunft, irgendeine, sie wünschen sich ein wenig Glück, wenigstens einen Job, einen Ausbildungsplatz. Aber das können sie alles vergessen; dafür sorgen Elternhaus und Gesellschaft. Was bleibt ist Trotz gegenüber den Eltern und ihrem türkisch-konservativen Einstellungen, Hass auf die »Kartoffeln«, die Deutschen, die alles haben, alles bekommen, was sie verlangen. Und es bleibt der Alkohol. Der macht locker, der hilft beim Träumen.
In den Club kommen die drei nicht rein, dabei hatten sie sich so schön aufgedonnert. Nur die ausländischen Touristen in abgewetzten Jeans, zerknitterten Hemden und dreckigen Turnschuhen winkt der Türsteher durch. Wie überall im Leben stoßen Hazal, Elma und Gül auch im Club auf geschlossen Türen. Diese Zurückweisung ist eine zuviel. Auf dem Heimweg eskaliert ihr Frust in einer hemmungslosen Gewaltorgie. Ein betrunkener Student macht sie auf dem U-Bahnhof blöd an. Sie verprügeln ihn und Hazal tritt ihn schließlich ins Gleisbett vor einen herannahenden Zug.
Schnitt. Harter Schnitt.
Im zweiten Teil des Romans ist Hazal in Istanbul. Sie ist an den Bosporus geflüchtet, weil hier Mehmet lebt. Mehmet ist als Intensivtäter aus Deutschland abgeschoben worden, Hazal hat ihn über einen Internetchat kennengelernt. Sie ist ein bisschen verknallt in ihn. Doch Istanbul, diese Stadt so weit weg vom spießigen Wedding mit all seinen »Kartoffel-Regeln«, erweist sich als eine Art zweite Hölle. Die Stadt ist dreckig und vermüllt, voller Bettler und Kleinkrimineller. Mehmet gammelt zugedröhnt und bekifft auf seinem Bett herum, steht allenfalls auf, um Geld für die nächsten Drogen zu besorgen, wie auch immer. Hazal versucht einen Job zu finden, in Istanbul ist das nicht leichter als im Wedding, sie spricht kein richtiges Türkisch. Obendrein ist sie eine Frau. Hier ist sie die Deutsche, wie sie in Berlin die Türkin war.
Steht im ersten Teil des Romans eine Milieustudie aus der Ichperspektive im Vordergrund, quasi ein Sittengemälde der Aussichtslosigkeit jugendlicher Migranten im Wedding, unterlegt mit jeder Menge Slang á la »Spast« und »Opfer«, so reflektiert die Erzählerin im zweiten Teil ihre verfahrene Situation vor dem Hintergrund des politischen und sozialen Klimas in der Türkei. Hier spielen Erdogans Staats-Umbaupläne, der Freiheitskampf der Kurden, Polizeiwillkür und eine ganz anders geartete Ellbogen-Gesellschaft die Hauptrollen.
Doch irgendetwas stimmt nicht, irgendetwas ist angeknackst in der Konstruktion der Geschichte, irgendetwas zerbrochen zwischen dem ersten und zweiten Teil. Es macht einigermaßen Spaß, die junge, nachdenkliche Frau zu beobachten, wie sie sich versucht in der Fremde zurechtzufinden und durchzuboxen, genau wie es Spaß bereitet hat, ihr durch den Wedding zu folgen. (Soweit von Spaß die Rede sein kann, angesichts der Gewalteskalation auf dem U-Bahnhof.) So schnoddrig und frech Hazal im ersten Teil denkt und spricht, so nachdenklich und analytisch ist sie plötzlich in Istanbul. So sehr sie auch strampelt und kämpft, sie bleibt auf beiden Schauplätzen Spielball der Gegebenheiten. Nur schlägt Aggression plötzlich um in Regression.
Im Gesumms Istanbuls wird der Totschlag auf dem Berliner Bahnhof zum Hintergrundgeräusch degradiert. Erst als ihre Tante auftaucht, um Hazal zu bewegen nach Deutschland zurückzukehren und sich zu stellen, rückt das Verbrechen wieder in den Vordergrund. Die Tat schmerzt, Hazal weint, aber sie bereut nicht. „Er hat es verdient“, sagt sie. Basta! Die Tante reist ohne Hazal ab. Der Roman endet in der Nacht des missglückten Putsches gegen Erdogan. Die Geschichte bleibt offen. Einen rührseligen, alles versöhnenden Schluss hat sich Fatma Aydemir für ihr Romandebüt verkniffen. Das ist löblich.
Beim Zuschlagen von Ellbogen bleiben gemischte Gefühle. Zu disparat fallen erster und zweiter Teil aus, das verbindende Gelenk fehlt. Die Schnoddrigkeit der Wedding-Studie verträgt sich nicht recht mit der Nachdenklichkeit der jungen Frau, die in Istanbul gestrandet ist und endgültig zwischen den Stühlen ihrer deutschen und türkischen Identitäten sitzt. Aber erst hier legt Fatma Aydemir die innere Zerissenheit und Haltlosigkeit der sogenannten zweiten und dritten Einwanderergeneration wirklich offen. Hier zeigt sie eindringlich, warum diese junge Frau ihre Identität nicht findet, nicht finden kann. Denkt man nach dem Bruch in der Mitte des Romans zunächst, der erste Teil ist besser, weil praller und lebensnaher erzählt, so lautet das Urteil am Ende andersherum. Erst im zweiten Teil wird die Hauptfigur komplex und vielschichtig, der Hintergrund vielfarbiger und reicher an Schattierungen und Nuancen. Das versöhnt und Ellbogen ist deshalb durchaus mit einer Empfehlung zu versehen.
Fatma Aydemir: Ellbogen
Gebunden, 272 Seiten
München: Hanser Verlag 2017
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
Fatma Aydemir liest aus ihrem Roman Ellbogen – zehnSeiten.de
Fotoachweis: Titelbild: U-Bahnhof Wedding | von Ingolf (Berlin) | CC BY-SA 2.0 | Quelle: Wikimedia Commons