Ein Leben gezimmert aus Lüge und Betrug – »Mittellage« von William H. Gass
Joseph Skizzen ist Professor an einer kleinen Universität im mittleren Westen der USA, wo die Menschen ein Leben zwischen Gottesfurcht und Bigotterie führen. Skizzen unterrichtet Musik, er ist Experte für Arnold Schönberg und Zwölftonmusik. Er ist nicht verheiratet und lebt in einem heruntergekommenen Haus der Universität, dessen einziger Schmuck der von Skizzens Mutter liebevoll gehegte und gepflegte Garten ist. Doch das geruhsame Leben in der Provinz ist alles nur Lüge.
Skizzens gesamte Existenz beruht auf Lügen. Es beginnt in 1938 in Graz, als Skizzens katholischer Vater sich als Jude ausgibt, um als Emigrant vor den Nazis zu fliehen. Eine zeitlang lebt die Familie darauf in London, bis der Vater nach einem ominösen Wettgewinn plötzlich verschwindet. Joseph, seine Mutter und seine Schwester wandern anschließend nach Ohio aus.
In Ohio wächst Joseph, genannt Joey, auf, geht zur Schule und führt entschlossen ein gewöhnliches, stinknormales Leben. Das allerdings errichtet er auf einem beständig wachsendem Gerüst aus Betrug und Fälschung. Skizzen fährt Auto, hat aber nur einen selbstgebastelten Führerschein. Er gibt Klavierunterricht, kann aber keine Noten lesen und lediglich einige Schlager klimpern, die er sich von Schallplatten abgelauscht hat. Die große Liebe seiner Mutter zu Blumen weckt Joey, indem er ihr gestohlenes Saatgut schenkt. Skizzens Leben in der Mittelklasse des mittleren Westen wird diktiert von Mittelmäßigkeit.
Die Generalmetapher schlechthin für Skizzens durchschnittliches Leben ist die Taste für das mittlere, eingestrichene C, die auf seinem Klavier klemmt und stumm bleibt. Musiker bezeichnen das mittlere C als Mittellage. Im Notensystem an US-Schulen ist ein Middle C, so der Originaltitel des Romans, ein gerade noch befriedigend. Irgendwie ausreichend zwar, aber nicht wirklich gut. Aus seiner verklemmten Mittellage versucht sich Joseph Skizzen zeit seines Lebens mit Hochstapelei und Schwindeleien zu befreien. Also ist Mittellage auch ein Roman über die Mittelklasse im mittleren Westen, dem abgehängten Kernland der USA, mit ihren Aufstiegsträumen und Abstiegsängsten, und es ist ein Roman über die Mitte des 20. Jahrhunderts mit seinen Katastrophen und Erfolgen.
William H. Gass, der Altmeister der amerikanischen Postmoderne, erzählt Skizzens Lebensgeschichte als Variation und Parodie des klassischen Bildungsromans. Er bringt die unhörbare Musik eines scheinbar stummen Lebens ans Ohr. Im Gegensatz zu seinem bedrohlich-düsterem Meisterwerk Der Tunnel ist Mittellage eine heiter-zynische Komödie.
Gass bricht mit vielen Regeln des Bildungsromans und erzählt nicht streng chronlogisch. Die kürzeren und längeren Kapitel sind verschachtelt und springen vor und zurück in Skizzens Leben. Im Text ist viel von Musik die Rede und der Text selbst ist sehr musikalisch. Wie die Sätze einer gewaltigen Lebenssonate entwickeln sich Themen, Durchführungen, Reprisen und Kreuzungen. Wichtigstes Grundmotiv ist ein Satz, den Joey Skizzen in immer neuen Abwandlungen ausführt und erweitert: »Die Angst, dass die Menschheit vielleicht nicht überlebt, ist von der Angst ersetzt worden, dass sie bestehen bleibt.« Der nach aussen biedere und freundliche Professor für Musik ist im geheimen der Kurator eines privaten Museums der menschlichen Inhumanität. Auf seinem Dachboden sammelt Skizzen akribisch alle schriftlichen Dokumente über Greueltaten und Grausamkeiten, die Menschen Menschen antun. Ein wahres Horrorkabinett aus Zeitungsschnipseln, Buchseiten und Zetteln.
Es ist wie bei der Zwölftonmusik; hinter dissonantem Klang verbirgt sich eine geheime Struktur, nur wer sehr genau hinschaut und -hört entdeckt sie. So ist Mittellage kein einfaches Buch; eher eine Übung für Leser, die intellektuelle Knobeleien und verschachtelte Wortspiele schätzen. Eine Serie geschliffener Variationen über das Leben eines Mannes, der seinem durschnittlichen Leben Glanz verleihen und der leuchten möchte, komisch, anarchisch und aussichtslos, präsentiert in einer wahren Schlachtanordnung von Vokabeln und Wortfeldern, voller alternierender Rhythmen, Formen, Stilen und Tönen. Nikolaus Stingl hat das wunderbar ins Deutsche übersetzt.
Hier und da mag der bei Abschluss des Romans 89-jährige Gass in der mehr als ein Jahrzehnt währenden Arbeit an dem 600-seitigem Buch den Überblick übers Material verloren haben, war dem Altmeister das Lektorat vielleicht zu wohlgesonnen, denn nicht alle Redundanzen und Abschweifungen sind förderlich und zwingend nötig. Dennoch: mit seinen Ausflügen in Politik, Historie, Soziologie, Psychologie und in die jüngere Musikgeschichte von Schönberg bis Cage ist Mittellage ein überzeugendes. literarisches Puzzle, das viel Spaß macht und den »Denkmuskel« gehörig fordert.
Am Ende muss Skizzen fürchten aufzufliegen, doch bei der Sitzung des Ethikrates der Universität wird nicht er, sondern ein Kollege als akademischer Betrüger entlarvt, und alle anderen, die um den Tisch herumsitzen machen den Eindruck, dass sie selbst heilfroh sind, nicht ebenfalls ertappt worden zu sein. Skizzen ist nicht allein in seiner mediokren Existenz. Spätestens hier wird Mittellage zu einem großen Roman, der die Identität der menschlichen Natur erforscht und zeigt, wie wir alle mehr als nur ein Selbst sind.

Aus dem amerikanischen Englisch von Nikolaus Stingl
Gebunden, 608 Seiten
Reinbek: Rowohlt Verlag 2016
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
Bildnachweis: Titelfoto von Ryan Holloway | Quelle: Unsplash