Was wir fürchten – Ein Spiel aus Angst, Paranoia und Kalkül
Das Leben von Georg ist bestimmt vom Wunsch nach Kontrolle und Distanz. Gleichzeitig greift eine alles dominierende Angst nach ihm, die Angst davor, die Zügel des Lebens aus der Hand geben zu müssen, manipuliert oder gelenkt zu werden. Diese Angst hat Georg geformt, er hat sich unter Schmerzen und seelischen Qualen diszipliniert, sich zu einem kontrollierten Menschen erzogen, einem Menschen, der alles kontrollieren möchte. Georg hat sein Leben hunderte Male durchgespielt und alles bis zum Ende durchdacht, immer und immer wieder. Er hat hundertfach alle möglichen Wendungen analysiert, er läuft nicht mehr blind in etwas hinein, er hat ein Skript, an das er sich hält, Georg hat einen Plan.
Ich erinnere mich an die Worte meines Vaters:
»Du bist ja paranoid. Halt einfach den Mund und sei still.«
Ich dachte:
»Das ist alles nur in meinem Kopf«
Die Stimme meiner Frau.
Ich dachte:
»Wenn du wirst wie dein Vater, bringe ich mich um.«
Die Worte meiner Mutter.
Diese und ähnliche Sätze sind der Refrain zu Georgs Leben. Schon als Kind war er anders als andere Kinder, er interessierte sich für Krankheiten, lange bevor er wußte, dass er selbst krank ist. Er schaute gerne in die Sterne, weil da oben am Himmel alles so ruhig, geordnet und berechenbar war. Georg ist Angstpatient. Medikamente und Klinikaufenthalte bestimmen sein Leben, die Angst bestimmt sein Leben, alles, was in seinem Kopf ist. In Was wir fürchten erzählt Georg seine Geschichte. Mit dieser Ausgangslage und diesem Material hätte Jürgen Bauer aus seinem zweiten Roman eine klinische Fallstudie machen können oder einen psychologischen Roman. Doch das habe ihn nicht interessiert, berichtet er im Gespräch mit lustauflesen.de.
Eine tiefersitzende Furcht sei viel reizvoller gewesen, eine Furcht, die jeder irgendwie kennt. Bauer geht es um den Kontrollverlust, um die Angst vor fremder Einflussnahme. So bestimmt auch der Wunsch ist, das eigene Leben zu lenken, es gibt immer andere, die hineinfunken, manipulieren und die Richtungen verändern möchten.
Die Geschichte des Angstpatienten Georg entwickelt sich so zu einem Roman mit einem höchst überraschenden Clou. Hier steht der Rezensent vor einem Dilemma, denn die brilliante Konstruktion des Romans erläutern und loben zu wollen, hieße nämlich, viel zu viel verraten zu müssen und den Spaß an der Lektüre zu verderben. Nur so viel: es entwickelt sich ein Katz-und-Maus-Spiel, bei dem die Rollen des Jägers und des Gejagten im Verlauf des Spiels vertauscht werden.
Georg, der Icherzähler des Romans, breitet seine Lebensgeschichte aus. Sein Zuhörer ist ein namenloser Mann, der mit ihm auf der Terasse sitzt. Während Georg erzählt, spielen beide Schach und die Sonne geht unter. Da sitzen also zwei Männer beisammen, von denen einer sein Leben erzählt und der andere zuhört. Doch Georgs Lebensgeschichte, die Icherzählung, wird regelmäßig unterbrochen. Eingeschoben sind Dialogpassagen, in denen der Zuhörer eingreift in die Erzählung, Fakten korrigiert und widerspricht. Man weiß nie genau, was stimmt. Fragen beginnen sich aufzutürmen. Existieren die Figuren überhaupt, was ist Einbildung, was Realität, warum sitzen sie da? Ist dies eine Therapiesitzung, ein Verhör, eine Verhandlung auf der Grundlage von Protokollen und Notizen? Das bleibt lange offen. Klar ist von Anfang an nur, es ist alles andere als ein entspanntes Gespräch.
»And I’d sell my soul for total control.« Diese Zeile aus einem Song der Motels steht als Motto über dem Roman. Darum geht es Jürgen Bauer im Kern, um totale Kontrolle, in doppeltem Sinn. Georg erzählt seine Lebensgeschichte, die dominiert ist vom Wunsch nach Kontrolle und der Angst vor Kontrollverlust, und gleichzeitig wird die große Verunsicherung, die Georg erfasst hat, auf den Leser übertragen. Auf der Metaebene verliert auch der Leser zunehmend die Kontrolle. Er wird getäuscht über die wahre Absicht der Geschichte, wird gezwungen, gewohnte Lesehaltungen aufgeben und wird auch sprachlich geschickt auf Abstand gehalten. Dem Leser wird die emotionale Nähe zu Georg absichtlich erschwert, genauso wie Georg den anderen Figuren im Roman die Nähe zu sich verweigert.
Georgs Lebenserzählung ist stilistisch glatt und kühl, wie mit einer spiegelnden Folie überzogen. Der Text ist filigran konstruiert und haargenau kalkuliert. Wie die Sterne, die er durch sein Teleskop beobachtet, wünscht sich Georg auch seine reale Lebensumwelt. Die Menschen sollen wie entfernte Himmelskörper vereinzelt im Raum stehen, Distanz halten und nicht direkt verbunden sein. Georg möchte beobachten, nicht berührern. Distanz gibt er nur gegenüber der Mutter ein wenig auf, viel weniger schon gegenüber der Ehefrau. Lediglich sein Freund Simon ist ihm wirklich nah, deshalb ist er auch der Einzige, der ihn wirklich verletzen kann. Der Verrat, den Simon als Kind an ihm begangen hat, ist der größte, der Georg jemals wiederfahren ist. So verraten und im Stich gelassen haben ihn seine Mutter und sein Vater niemals. Aber gerade deswegen ist Simon auch der Einzige, der ihm helfen darf, der emotional wirklich an ihn herankommt, und mit Simon dann auch der Leser.
Auch formal werden Georgs Lebenserzählung und das seltsame Gespräch mit dem Mann auf der Terasse bestimmt von diesem Wechselspiel aus Distanz und Nähe. Wie bei einer Fahrt im Zug, wenn sich zwischen den Beobachter und die observierte Welt eine glatte Scheibe schiebt, hält Bauer in seinem Text den Leser auf Sicherheitsabstand. Nur punktuell wird die glatte Oberfläche durchstoßen. In diesen Momenten bilden sich in der glatten Oberfläche des Textes, Risse und kleine Kanten, an denen der Leser hängenbleibt wie an Widerhaken. Das ist brilliant und macht beim Lesen enorm viel Spaß.

Jürgen Bauer bezeichnet sein Buch als »Familienroman mit Krimielementen«. Geschickt hat er zwei fremde Genres zusammengebracht. Da ist zum einen die Erzählung von einem Aufwachsen in einem Elternhaus, wo bereits der Vater psychische Problem hat, gefolgt vom Hineinwachsen in eine Ehe, in der es seelisch auch alles andere als rund läuft, und zum anderen sind da die Elemente des Thrillers. Sie fügen dem Roman dunkel-paranoide Momente hinzu, den Verfolgungswahn, das Kalkül und die ständig mitschwingende Frage: Bildet er sich das ein oder nicht, ist das alles nur im Kopf?
Das fein ausbalancierte Verwirspiel aus Angst, Paranoia und Kalkül wird sehr gekonnt und spannungsgeladen aufrecht erhalten, ohne je langweilig zu werden. Lange, sehr lange bleibt alles offen, erst kurz vor Ende des Buches werden die Rätsel aufgelöst. Der Schlussatz schließlich ist die Aufforderung, die Schachfiguren am Ende der Partie wieder in ihre Grundpositionen auf dem Brett zu schieben, das Spiel auf der Terasse mit vertauschten Rollen neu zu starten und damit auch die Lebensgeschichte Georgs.
»Sometimes paranoia’s just having all the facts!«
William S. Burroughs