Blogrhythmusstörung – Eine Anamnese in eigener Sache
Blogrhythmusstörung, die; Substantiv, feminin. Störung des normalen Blogrythmus.
Siehe auch:
Rhythmus, der; Substantiv, maskulin. Gleichmaß, gleichmäßig gegliederte Bewegung; periodischer Wechsel, regelmäßige Wiederkehr.
Herkunft: lateinisch rhythmus < griechisch rhythmós = Gleichmaß, eigentlich = das Fließen, zu: rheĩn = fließen; schon althochdeutsch ritmusen (Dativ Plural).
Ein Wir-über-uns-Text – Muss der sein?
Direkte Frage, eindeutige Antwort: Ja, es muss sein, obwohl Beiträge, die sich mit der eigenen Blogarbeit (Ist Bloggen Arbeit?) befassen, sind an sich nicht mein Ding. Doch wenn, der Rhythmus gestört ist, dann gilt es, nach den Ursachen für den unregelmäßigen Gleichlauf zu forschen. Auf denn, Untersuchung, Befund … Behandlung.
Der Anlass für diesen Beitrag war banal, eine Virusinfektion (Magen-Darm-Grippe; ich erspare Details) hat mich für mehrere Tage komplett ausgeknocked. Keine Kraft zum Lesen, erst recht keine zum Schreiben, aber viel Zeit – von Fieberhitze gepeitscht – über lustauflesen.de zu sinnieren. Auf dem Krankenlager brach sich so Bahn, was lange schon lauerte, nämlich eine latente Unzufriedenheit mit dem status quo. Die wahre Ursache liegt wie immer tiefer verborgen. Die Anamnese ist komplex und kompliziert. Tobias Zeising hat kürzlich in seinem Blog Lesestunden unter dem Titel »Wie läuft das mit dem Buchbloggen?« einen umfangreichen Fragenkatalog veröffentlicht. Eine ehrliche und vor allem überzeugende Antwort zu geben, fiel mir bei vielen der Fragen äußerst schwer. Eine klares Indiz für einen labilen eigenen Standpunkt. Deshalb dieser Versuch über die Suche eine mögliche neue Stabilität. Der Blogrhythmus ist gestört, er muss wieder in Takt gebracht werden.
Es knirscht im Getriebe
Der eigene Maßstab ist mir abhanden gekommen. Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander. Auf dem Schreibtisch stapeln sich die Bücher, die gelesen wurden und seitdem vergebens auf ihren Beitrag warten, dieser Stapel wächst bedrohlich. Parallel dazu existieren zahlreiche Textfragmente, Notate, Stichwortlisten, allein sie wollen nicht in Beiträge fließen. Die Gründe dafür sind vielfältig, fehlende Motivation und Spaß gehören nicht dazu. Es sind eher eine diffuse Unlust am Schreiben und die Unzufriedenheit mit möglichen Resultaten, die mich bremsen. Meine Texte gefallen mir nicht mehr, sie sind zu formlos und zu verquast, zu belehrend und didaktisch, zu wortreich oder zu karg, ohne Idee und Geist, sie haben schlicht kein Feuer.
Mein Literaturgeschmack ist, nun, ich sage es mal frei raus, mitunter eigen. Eine große Zahl aktueller und viel diskutierter Neuerscheinungen interessiert mich eher weniger. Namen? Da könnte ich Benedikt Wells nennen, dessen jüngster Roman Vom Ende der Einsamkeit förmlich durch alle Literaturblogs gepeitscht wird, auch Ronja von Rönnes Debut Wir kommen kann gerne kommen (und auch wieder gehen). Wenn ich die Verlagsvorschauen sichte, denke ich nicht selten, ja, darauf werden sich alle stürzen, aber meine Neugier weckt es überhaupt nicht. Ist das ein Fehler, katapultiere ich mich damit raus aus »virulenten« Diskussionen? Es sind (nicht immer, aber sehr häufig) die verschrobenen und sperrigen Texte, die radikalen und sehr dicken Bücher die mich anziehen, literarische Monolithen, wie Horcynus Orca von D’Arrigo oder Die Tutoren von Cosic, Romane, deren Lektüre zeitraubend ist und deren Komplexizität mir dann bei der langen Suche nach meiner passenden Reaktion auf sie ein Bein nach dem anderen stellen, bis ich hinfalle. Und steht dann doch ein Beitrag, dann ist er alles andere als ein Kandidat für explodierende Klick- und Like-Zahlen.
Ist das überkritische Selbstwahrnehmung auf dem besten Weg zum weinerlichen Selbstmitleid? Mag sein, aber ich bin derzeit unfähig, dies unangenehm quälende Gefühl abzuschütteln, beständig auf dem falschen Weg zu sein. Ich ertappe mich dabei, mich in ein Stilkorsett zwängen zu wollen (zu müssen?), das mir nicht passen will. Doch statt es ein für alle mal abzustreifen und einfach so zu sein wie ich bin, quetsche ich mich wiederholt tapfer zwischen die Stangen, zerre an den Schnüren und hoffe, dass es doch noch was wird mit der guten Figur. Schreiben, hat Ernest Hemingway mal gesagt, sei ganz einfach, man müsse nur die unpassenden Worte streichen. Er hat gut reden…
Wer unzufrieden ist in seinem Garten, läßt die Blicke zu den Nachbarn schweifen, blickt wahlweise neidisch und bewundernd über den Grenzzaun oder ruhig lächelnd, beseelt von der Erkenntnis, dort sieht es auch nicht besser aus. In Blogs wird unreflektiert geplappert oder scharfsinnig analysiert, einige schnurren gleichmäßig vor sich hin, wie gut geschmierte Motoren, ohne besondere Spitzen und Abfälle in der Leistung, andere stottern und hin und wieder lassen sich einige finden, die laut »Ich, ich, ich« schreien, dabei mitunter die Fakten ignorieren und komplett ausblenden, was andere zu sagen oder leise einzuwenden haben. Warum nicht?! Alles ist möglich zwischen den Extremen aus kaminofen-befeuerter Buchkuscheligkeit und blutig-brutalem Verrißmassaker. Blogs existieren in jeglicher Couleur, Stil und Form und zu schnell lasse ich meine Wahrnehmung blenden und irritieren vom Erfolg anderer Blogs. Wer zu lange in Nachbars Garten schielt, wird betriebsblind und bekommt die eigene Scholle nicht mehr bestellt.
Meine Blogrhythmusstörung ist nicht genetisch, sondern konditioniert, so das eindeutige Ergebnis des Befundes. Ich komme aus dem Takt, weil ich mich nicht auf meine innere Uhr verlasse, nicht auf den eigenen Herzschlag horche. Ich habe den Fokus verloren, weil ich nur noch nach rechts und links blicke, mich ablenken und irritieren lasse.
Fazit: oder eine mögliche Behandlung
Der Fußballtrainer Hermann Gerland (Urgestein aus dem Ruhrpott) urteilte einst über einen talentierten, aber mäßig torhungrigen Spieler: »Der Junge denkt zu viel. Fressen, kacken, kicken. Dat is dat einzige, was der zu tun hat. Aber der denkt zu viel.« Kann bloggen wie Fußball sein? Warum nicht!
Sich auf gewisse Urinstinkte zu besinnen, kann helfen. Schreiben wie es mir gefällt, über das, was gefällt, so lautet in der kommenden Zeit meine Devise. Ich werde experimentieren, formal und inhaltlich, darauf sollten sich meine Leser einstellen. Es wird sehr kurze Beiträge geben (oder ultrakurze), auch wenn Blogratgeber (wie wird man das?) standfest behaupten, erst ab tausend Worten werde man vom Leser ernstgenommen. Aber warum soll ich tausend Worte schreiben, wenn auch 100 oder gar nur 50 ausreichen, meine Meinung zu einem Buch umfassend darlegen zu können. Ich werde unreflektiert plappern, wenn mir dannach ist, oder oberlehrhaft dozieren, blumig fabulieren oder schreiben wie mir der Schnabel gewachsen ist. Vielleicht werde ich hin und wieder auch laut »Ich« rufen, nur um mich im nächsten Beitrag wieder in die neutrale Ecke zu verziehen. Viel hilft viel. Es ist mein Blog, ich werde ihn (endlich wieder) meinem Rhythnus überlassen, ihn in meinem Takt füttern, ohne Redaktionspläne und Termindruck. Frei nach Hermann Gerland: »Lesen, schreiben, raushauen!« Oder etwas feiner formuliert: »Write drunk, edit sober.« Um nochmal Hemingway zu bemühen.
Ich hoffe, Ihr bleibt mir treu und unterstützt mich bei der Genesung. Die Blogrhythmusstörung kann behoben werden.
Foto: Ernstl (Wikimedia Commons – CC-BY-SE-2.5)