Kind sein im Kanzlerbungalow – »Raumpatrouille« von Matthias Brandt
Ein zehnjähriger Junge erzählt aus seinem Leben. Am liebsten fährt er mit seinem Bonanzarad herum und sein bester Freund ist der Hund Gabor, mit dem er Wolken zählen geht. Einmal kauft er vom Geld für Schulbücher lieber einen Astronautenanzug, wegen der ersten Mondlandung und seinem Mitgefühl für Michael Collins, der einsam in der Fähre zurückblieb, während Neil Amstrong und Buzz Aldrin auf dem Trabanten herumspazierten. Leider reicht das Geld nur für den Anzug, der Helm kostet extra. Der zehnjährige Junge trinkt Tri Top, hat Leberwurstbrote in der Manteltasche, raucht heimlich die erste Stuyvesant und daheim im Wohnzimmer steht eine massive Schrankwand aus Eiche. Wir stecken in den Anfangsjahren der 1970er.
Geschichten nennt Matthias Brandt diese Erinnerungen an eine Kindheit. Es ist seine Kindheit. Wer den Schauspieler bei einem seiner raren Auftritte in einer Talkshow erlebt hat, weiß, Brandt erteilt Auskünfte über seine Person ungern direkt, er erzählt lieber kleine Geschichten, er macht das ganz beiläufig, zurückgenommen, bedächtig und präzise. Beim Lesen von Raumpatroullie hört und sieht man ihn vor sich, den einfühlsamen Charakterschauspieler, den Sohn des ehemaligen Bundeskanzlers und SPD-Ehrenvorsitzenden Willy Brandt.
Ja, diese Geschichten sind erkennbar autobiographisch. Die Raumpatroullie streift durch das Raumschiff Bonn, jener »Interimshauptstadt« am Rhein, die abseits der politischen Bühne auch mit Nobless und ebenso mit verschlafener Provinzialität aufwarten konnte. Brandt beleuchtet (s)eine Kindheit im Kanzlerbungalow. Brandt erzählt vom Vater der so häufig abwesend ist und doch nie gestört werden darf, wenn er sich denn zuhause aufhält. Personenschützer sind allgegenwärtig und ein kindliches Spiel besteht darin, ihnen zu entwischen. Und nebenan, beim netten, älteren Herrn Luebke, gibt es immer Kakao. Für echte Wärme, Rückhalt und Geborgenheit sorgt nur die Mutter, die immer da ist für den Jungen. Ihr setzt Brandt mit den Geschichten ein kleines Denkmal.
Aber Raumpatrouille ist weit mehr als eine autobiographische Skizze. Der Zeitrahmen ist präzise abgesteckt, durchzogen mit Reminiszenzen auf Alltagskultur und Zeitkolorit. Wer mit Matthias Brandt in etwa das Alter teilt, wird sich wiederfinden und sich gerne zurückerinnern. Indem er zurückblickt auf seine Kindheit, lehrt uns Matthias Brandt, uns selbst zu erinnern, selbst wieder mit den Augen eines Kindes auf die Welt zu blicken. Er lehrt, den Zauber kindlicher Naivität erneut zu wecken und zu staunen über die Tatsache, doch Erwachsen geworden zu sein. Anrührend ist das, wenn etwa der kleine Mann im Buch versucht die große Welt in sein Kinderzimmer zu holen und doch an der Komplexität der Realitäten scheitert. Die kleine Apollorakete will am Faden enfach nicht so durchs Zimmer fliegen wie die große im Fernsehen durchs All. Und wenn das ehrgeizige Zauberkunststück total in die Hose geht und der Teppich in Flammen steht, dann starrt uns ein bedröppelter Knabe an, schwankend zwischen Wut und Tränen. Ja, die Geschichten in Raumpatrouliie sind mitunter sehr lustig, etwa wenn der kauzige Herr Wehner vorbeikommt um mit dem Vater eine Radtour zu starten, die jäh mit einem Kanzlersturz ins Möhrenbeet abbricht. Am Ende aber wohnt selbst der komischsten Situation immer ein wenig Wehmut und Tragik inne.
Der Zauber des Buches liegt in seiner feinen Melancholie. Der Mitfünfziger betrachtet sich selbst als Kind und spürt ohne Sentimentalität und mit ehrlicher Neugier den unscheinbaren Augenblicken nach, die ihn geprägt haben. Der Rückblick als Besinnung auf das Gegenwärtige und das Künftige. Das ist die Qualität, die Brandts Geschichten jenseits aller autobiographischer Spiegelung so stark und eindringlich machen. Er schreibt wie er als Schauspieler agiert, einfühlsam, klar und mit Tiefe.
Geschichten
Gebunden, 176 Seiten
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2016
Mehr Informationen zum Buch und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages