Gurken, Zeitblasen und Relativität
Ein Gespräch mit John Wray über seinen Roman »Das Geheimnis der verlorenen Zeit«
Waldemar Tolliver jr. sitzt in der Falle. Er hockt im düster verwinkelten New Yorker Appartement seiner Tanten. Nur wenn er das Geheimnis seiner Familie lüftet, wird er gerettet.
Um 8:47 Uhr EST bin ich heute morgen aufgewacht und fand mich von der Zeit ausgeschlossen.
Bereits im ersten Satz steckt der gesamte Romans. Das Geheimnis der verlorenen Zeit (Originaltitel: The Lost Time Accidents) spielt strenggenommen nur an diesem einen Handlungsort und in dieser einen Handlungsminute: 8:47 Uhr EST im Appartement der beiden Tanten. Waldemar jr. wühlt sich durch die Geschichte und Theorie der Zeit in der Physik, schreibt eine Familiensaga über vier Generationen und eine Historie des 20. Jahrhunderts auf zwei Kontinenten, offenbart die Genese einer Sekte und die Geschichte einer Liebe, die vielleicht nie eine war. Ein Werk über Gurken und Relativität, ein Roman voller Wahn und Witz, Philosophie und Pop.
John Wray (eigentlich John Henderson) trifft verspätet zum Interview ein. Nein, kein Zeitunfall, nur eine verspäteter Zug. »Entschuldigung, dass ich so verschwitzt bin; ich habe alles versucht, die Zeit einzuholen«, sagt er verschmitzt. Wray spricht fließend Deutsch mit einer charmanten Mischung aus amerikanischen und österreichischen Akzenten. Seine Großmutter hat ihm das beigebracht, eine Frau, die ohne ein Wort Englisch zu sprechen regelmäßig die Hälfte des Jahres in den USA verbringt. Die Hendersons sind Amerikaner und Österreicher zugleich. Der alte Bauernhof in Friesach, das Familiengut in Kärtnen, dient auch John Wray als zweite Heimat. Einen Roman zu schreiben, der die USA und Österreich verbindet, die Zeit als »vierte Dimension« in den Vordergrund schiebt und die Relativitätstheorie auf den Kopf stellt, ist eigentlich ein irrsinnges Unterfangen.
John Wray: Ja, das ist es und ich habe sieben Jahre lang hart daran geschuftet. Die vierte Dimension spielt ja bei jeder Erzählung eine Rolle, es muss Zeit vergehen, damit die Geschichte voranschreiten und sich Handlung entwickeln kann. Aber wenn die Zeit an sich zum Hauptthema wird und ich sie genau angeschaue und erforsche, verursacht sie enorme Probleme. Wir sind biologisch und genetisch darauf programmiert, linear zu denken, also von der Vergangenheit in die Zukunft. Es war ausgesprochen schwierig, eine Handlung zu entwickeln, die einerseits der Chronologie treu bleibt, andererseits davon abirrt. Das hat zeitweise wirklich weh getan im Kopf.
Alles beginnt im verschlafenen k.u.k. Städtchen Znaim. Im Juni 1903 entschlüsselt der Gurkenfabrikant und Hobbyphysiker Ottokar Toula das Geheimnis der Zeit, wird aber Augenblicke später von einem sich mit nahezu Nullgeschwindigkeit bewegendem Auto überrollt und getötet. Seitdem liegt auf der Familie der Fluch. Mit allen Mitteln gilt es das Rätsel der Zeit und der Zeitreisen zu entschlüsseln, das Ottokar mit ins Grab nahm. Seine zwei Söhne schlagen dabei unterschiedliche Wege ein. Kaspar wendet sich der berechenbaren Physik zu, ohne das von Einstein aufgeworfene Problem der Zeit, Waldemar dagegen schlägt sich auf die »böse Seite der Macht«. Er wird überzeugter Nationalsozialist und führt menschenverachtende Zeitexperimente in Konzentrationslagern durch. Am Ende des Krieges verschwindet er spurlos. Immer wieder kreuzen historisch verbürgte Physiker und Theorien den Weg der Toulas.
John Wray: Physik hat mich immer interessiert. Als Laie wirkt sie auf mich wie eher wie eine Wunderkammer, als etwas wissenschaftlich Begreifbares. Als ich begann mit dem Roman hatte ich keine Vorstellung, wie wenig Begabung ich wirklich für Physik habe. Viele Aspekte etwa von Einsteins Relaitivtätstheorie habe ich sehr schnell herunterschreiben müssen, in der kurzen Zeitspanne, in der ich sie einigermaßen kapiert habe. Viele Theorien der Physik, vor allem, die die sich mit der Zeit beschäftigen, richten sich diametral gegen den gesunden Menschenverstand. Mein Gehirn akzepierte sie schlichtweg nicht und spülte diese Theorien immer wieder raus. Leider habe ich das nicht früh genug festgestellt, so dass ich noch hätte aufhören können. Andererseits handelt das Buch hauptsächlich von Physikern, die vollkammen verrückt sind und spinnen. Das war meine Rettung.
Die Zeitblase, in der Waldemar Junior feststeckt, widerspricht der Vernunft in besonderem Maße. Die Grundidee des Buches, jener fatale Unfall in der Zeit, entsprang vor langer Zeit.
John Wray: Als junger und auch etwas zorniger Mann bin ich der familiär angespannten Enge Buffallos entflohen. In New York habe ich zeitweise in Abbruchhäusern und Kellern gezeltet, unter anderem gegenüber eines Kraftwerkes. Dort habe ich dieses Schild am Zaun gefunden, das auch in der Mitte des Romans auftaucht. »0062 Stunden ohne einen einzigen Moment des Zeitverlustes«. Das war die Intitialzündung für diese Geschichte, Jahre bevor ich begonnen habe sie niederzuschreiben. Viel wichtiger als die Zeit, wurde für mich dann aber jene Vektivität, mit der wir uns alle eine eigene Realität bilden, die mit der Realtät anderer nicht zwingend übereinstimmen muss. Das führt häufig zu ernsthaften Problemen. Wunderbarerweise funktioniert unsere Gesellschaft dennoch halbwegs, weil sich unsere Subjektivitätssphären gerade genug überschneiden, um uns verständigen zu können. Deshalb wollte ich, dass der Leser einbezogen wird und selbst für sich entscheiden muss, ob die Zeitblase und die beschriebenen Zeitreisen im Buch real sind oder nur die Einbildung eines Geisteskranken. Der Roman sollte tatsächlich auf mehreren Ebenen funktionieren, zeitlich, stilistisch und inhaltlich. Wenn jemand das Buch als Science Fiction liest, dann ist das o.k. und gefällt mir. Aber es läßt sich ebenso als Literatur jenseits eines Genres lesen, als psychologische Literatur oder Literatur-Literatur.
Räumlich überbrückt der Roman zwei Kontinente, zeitlich ein ganzes Jahrhundert. Die Geschichte ist geprägt von großen Auf- und Umbrüchen, zwei Weltkriegen, Flucht, Immigration, vom amerikanischen Traum und seinem Scheitern. Kaspar wandert aus in die USA und seine Kinder tragen den Zeitkonflikte in die nächste Generation. Sohn Orson verflucht das Erbe und reüssiert als Autor rätselhaft-mythischer Science-Fiction-Romane, seine Schwestern dagegen schwingen sich auf zu Gralshüterinnen und messyhaften Archivarinnen des Vermächtnisses von Waldemar sr. Scheinbar mühelos bündelt Wray Stoffe und Handlungsfäden, die locker für vier Romane ausgereicht hätten.
John Wray: Daran bin fast täglich verzweifelt und wollte sehr oft aufgeben, weil ich gemerkt habe wie überehrgeizig dieses Projekt ist und wie es mich eingeschlossen und gefangen gehalten hat. Gerettet hat mich, das passt zum Thema, die Zeit, die mir als Autor zur Verfügung steht. Ich bin nicht so gebildet, intelligent und witzig, wie ein gelungenes Buch letztendlich dem Leser vorgaukelt. Nur die ständige Überarbeitung ermöglicht es mir, viel schlauer, gewitzter und interessanter zu wirken, als ich bin. Dieses Tricks bedienen sich alle Autoren. Haruki Murakami hat mir das einmal so erläutert: Schreiben sei, wie hinter einer Kamera zu stehen und selbst zu bestimmen, wohin diese Kamera schaut. Eine große Schlacht wie in Krieg und Frieden, spiele ich so mit 40 Soldaten durch und erwecke den Eindruck von 100 Tausend Kämpfern. Denn die Kamera bewegt sich und die Komparsen mit ihr. Aber noch viel dringlicher als eine gute Kameratechnik braucht der Schrifsteller Mut, viel Mut, der aus großer Naivität erwächst. Jeder Autor bildet sich zu Beginn ein, das ganze Buch bereits fertig im Kopf zu haben. Doch beim Arbeiten entpuppt sich der Plan als eine farbige Wolke aus Luft und nichts wirklich Konkretem. Wenn man das am Anfang wüßte, würde man wahrscheinlich nie anfangen.
Das Geheimnis der verlorenen Zeit ist auch ein Roman über Konflikte zwischen Vätern und Söhnen. Im Grunde fußt die gesamte Geschichte der Tollivers auf gestörten Beziehungen, die in der Zeitblase kulminieren, in der Waldemar jr. feststeckt.
John Wray: Ja das ist so, und Sie sind tatsächlich der erste, der das erkennt. Es ist kein Zufall, dass dies mein erstes Buch ist, das ich meinenm Vater gewidmet habe. Ich hatte immer ein schwieriges Verhältnis zu ihm. Bislang habe ich das verarbeitet, indem Väter in meinen Romanen abwesend waren, einfach verschwunden, nicht da. Mütter stellten die wichtigen Bezugsfiguren für meine Helden dar. Diesmal spielen Väter prägende Rollen, was mir beim Schreiben zunächst gar nicht so bewußt war. Wenn wir den Vater, Eltern überhaupt, endlich objektiv mit allen Fehlern wahrnehmen können, ist es in der Regel zu spät. Dann ist der ganze Scheiß, verzeihenn Sie das drastische Wort, schon passiert. Das ist die Ironie des Lebens.
Kakanien meets New York. Von Österreich-Ungarn über das Dritte Reich in die Vereinigten Staaten. Auf ihrem Feldzug gegen die Chronologie und die Zeit geraten die Toulas und Tollivers regelmäßig auf Irrwege und landen in Ausnahmezuständen. Waldemar sr. wird zum Dr. Mengele der Zeitexperimente, sein Neffe Orson zum unfreiwillgen Sektengründer. Sein Werk ist das Fundament die »Vereinigte Kirche der Synchronologie«. Scientology läßt grüßen.
John Wray: Mein Roman sollte ebenso historisch wie psychologisch sein, und durch seine Auswanderungsgeschichte ebenso europäisch wie amerikanisch. Sekten sind das amerikanischste, das ich mir unter gesellschaftlichen Gesichtspunkten vorstellen kann. Darin sind die Amerikaner besser als alle anderen Länder, abgesehen vielleicht von Indien. Als Schriftsteller eine Sekte zu gründen ist kreativ und macht Spaß. Sektengründer sind nicht umsonst höchst kreative und charismatische Menschen, manchmal sogar Künstler wie Ron L. Hubbard, ob gute oder schlechte Künstler sei dahingestellt. Scientology diente als Vorbild für meine Sekte, unverkennbar. Zwischen Schriftstellern, Künstlern und Sektengründern besteht eine enge Verwandschaft, weil Texte und Bilder eine große Rolle spielen. Hubbard hat für seine Zwecke perfekte Texte und Theorien ausgedacht und formuliert. In meinem Roman allerdings erfindet der Schriftsteller Orson die Sekte nur aus Versehen, was er schreibt gerät ausser Kontrolle. Wie er ausgenutzt und okkupiert wird, hat wiederum sehr tragikomische Züge.
Mit Mrs. Haven, der Frau des eigentlichen Sektengründers, verstrickt sich Waldemar jr. in eine Affäre. Nur die Liebe zu dieser Frau, so hofft und glaubt der Gefangene der Zeit, kann ihn retten, nicht Großonkel Waldemar, der ab und an durchs Zeitwurmloch hereinschaut. Erlösung durch Liebe, darin liegt Kitschgefahr.
John Wray: Mir war in erster Linie eines wichtig: der Erzähler hat jemanden geliebt. Zumindest stellt er sich vor, geliebt zu haben, aber das machen wir alle. Ich meide in meinen Büchern Sentimentalität, meine Liebesgeschichten sind niemals glücklich. Vielleicht hat Mrs. Haven anfangs echte Gefühle für Waldemar, doch dann gibt es eine Wende einen Bruch. Wieder ist Humor entscheidend. Traurige Situationen haben mehr Potential für Witze. Scherze über das Glück sind unmöglich, das funktioniert nicht. Wer restlos glücklich ist, braucht und macht keine Witze. Nehmen sie den jüdischen Humor, der ist am stärksten, wenn die Katastrophe am größten ist. Es ist kein Zufall, wenn ein Volk, das über Jahrhunderte hinweg leiden musste, einen immens starken und wirkungsvollen Humor entwickelt hat. Im Leiden Humor zu zeigen und Witze zu reißen, ist mir ein wichtiges Anliegen, dieser Humor rettet Leben.
Ein wundersamer Roman, witzig, atemberaubend schnell und facettenreich. Mit viel Sprachwitz und Tempo geht es auf eine atemberaubende Zeitreise, voller Fallen und doppelter Böden. John Wray ist Genie und Handwerker; bei aller Koketterie weiß er genau, wie (s)ein Roman zu funktionieren hat. Er hat sich da nicht kopflos reingestürzt. Nicht zuletzt Dank der intensiven und fruchtbaren Zusammenarbeit mit Übersetzer Bernhard Robben liegt mit Das Geheminis der verlorenen Zeit einer der interessantesten Titel des Bücherherbstes vor uns. Lesen, unbedingt!
Aus dem amerikanischen Englisch von Bernhard Robben
Gebunden, 736 Seiten
Reinbek: Rowohlt Verlag 2016
Mehr Informationen zum Buch und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages