»Viel gelesen haben wir ja nicht« – Das war meine Frankfurter Buchmesse 2016
Das wichtigste zuerst: das #frankfurtfever hat mich verschont. Ein leichtes Kratzen im Hals, ja, aber sonst bin ich einigermaßen fit. Ápropos fit: Muckibude und Lauftraining sind vorerst obsolet. Habe tonnenweise Bücher gestemmt und geschleppt, nicht gezählt wurden die Schritte, nicht vermessen die Kilometer und die Rolltreppenhöhenmeter. Es reichte wohl für einen Halbmarathon und einen Familien-Dreitausender; mit neuem persönlichen Rekord im Bereich des Möglichen.
Eine lange Buchmesse diesmal, angereist bereits am Montag, um als Buchpreisblogger (zusammen mit Gérard Otremba und Tobias Nazemi) der Verleihung des Deutschen Buchpreises beizuwohnen. Für den Novizen ist das aufregend wie bei den Oscars; die Spannung im Saal steigt spürbar bis zum erlösenden: »Und der Buchpreis geht an …. !« Bodo Kirchhoffs Widerfahrnis zählte nicht zu meinen Topfavoriten, aber ist akzeptabel, auch wenn seine Novelle, die streng genommen keine ist, gegen Ende sehr in symbolhafte Überhöhung abdriftet mit dem Auftritt der kleinen, heiligen Familie aus Schwarzafrika. Kirchhoff bemühte Fußball in seiner Dankesrede, Ballsportbezüge sind immer unglücklich, hob seine Heimatstadt Frankfurt hymnisch in den Himmel, darob ihn der Oberbürgermeister inniglichst herzte, und er verlor sich ein wenig in Selbstgerechtigkeit und Genugtuung. Ein Rettungsversuch dann im letzten Satz: »Ich bin sehr viel glücklicher, als man es mir vielleicht ansieht.« Anschließend ging’s ans Büffet. Das war tippitoppi und wirklich reichhaltig. (Und im kommenden Jahr dürfen dann andere Bloggerinnen und Blogger ran. Nach zwei Buchpreis(blogger)runden räume ich das Feld.)
Seltsam; bei Heinrich Riethmüller (Vorsteher des Bösenvereins des deutschen Buchhandels) und Juergen Boos (Geschäftsführer der Frankfurter Buchmessse) wenig Regung und excitement. Nur bei einem kleinen, älteren Herrn mit weißer Kappe drehen alle durch. – !!! – Ach, so. Das war David Hockney. – Auftaktpressekonferenzen sind ein merkwürdige Rituale.
Keine Angst vor Denis Scheck, denn: »Ich bin nicht der Lord Voldemort der Literturkritik.« Aber Geschmack hat er und Stil und trug an Füßen und Wade signalfarbenes Orange. Ich auch! Er allerdings, ganz Stilikone, mit Kniestrümpfen, der kleine Blogger nur mit knappen Socken. Die definitiv coolsten Schuhe von uns dreien trug jedoch Elisabeth Ruge. Mit diesen Größen der Literaturbranche kam ich zusammen beim Startschuss zum Blogbuster 2017. Hier die Auftaktveranstaltung im Videomitschnitt. Wir sind alle mächtig gespannt, wohin uns dieses Experiment führt.
Hier der wdr zu Buchbloggern und Blogbuster (u.a. mit Uwe, dem Kaffeehaussitzer) und hier die Frankfurter Rundschau (u.a. mit Sophie von Literaturen).
»Kennt ihr Euch eigentlich?« – »Ich lass mal mein Kärtchen da.« – »Prost!« Beim Buchmesse Bullshit-Bingo der taz hatte ich nach gefühlt 35 Minuten Messe bereits die volle Punktzahl.
Überhaupt; niemals im Jahr herze und umarme ich so viele Menschen wie in vier Tagen Buchmesse. Einige dieser Menschen waren mir zuvor völlig fremd (also ausserhalb von Facebook & Co.). Jetzt nicht mehr.
Begegnungen, die als »klassischer Blog-Businesstermin« beginnen, entwickelten sich zu zauberhaften Momenten. John Wray ist ein großartiger Schriftsteller und ein großartiger Typ. Statt ein schnödes Interview mit ihm zu führen, plauderten wir lebhaft über Physik, Zeitreisen und Zeitblasen, die Mühen, unzählige Fäden zu bündeln, so dass Stoff für vier Romane in einen passen, über Väter und Söhne, eine Sekte, ein Jahrhundertpanorama auf zwei Kontinenten und über eine unsentimentale Liebesgeschichte. Ihr dürft gespannt sein auf einen langen Artikel über Johns fulminanten Roman Das Geheimnis der verlorenen Zeit (übersetzt von Bernhard Robben, erschienen im Rowohlt Verlag).
Ihren Roman habe ich gemocht, sehr sogar, ihre Buchpremiere in Berlin leider verpasst, aber in Frankfurt nun endlich die super-sympathische Nele Pollatschek kennengelernt. Wir haben angeregt darüber geplaudert, wie es ist mit einem Debütroman plötzlich im Rampenlicht zu stehen, mit Kritik umzugehen, und darüber gesprochen, wie ich dazu beitragen durfte, dass Nele nun mit der ebenfalls super-sympathischen Isabelle Lehn eng befreundet ist. Warum? Wird nicht verraten. (Ach, und warum habe ich eigentlich Isabelle auf der Buchmesse verpasst? Isabelle, bitte melde Dich. Wir müssen das nachholen!)
Woruber ich weder mit Nele Pollatschek noch mit John Wray sprach, war die Frage, warum Schriftsteller lieber Lotto spielen sollten als Romane zu schreiben. Denn die Chance im Lotto zu gewinnen ist größer, als mit einem Roman reich zu werden. Hier die Belege dafür in der FAZ.
Bloggerrunden – Einige Zeitgenossen betrachten sie als Vergeudung von Lebenszeit. Ich mag sie. Danke an Manesse und DVA, Hoffmann & Campe, Diogenes, Kiepenheuer & Witsch, Klett-Cotta, Rowohlt, Dumont und Hanser. Es war schön bei Euch. Bei Hanser Verleger Jo Lendle dann noch persönlich die Bewerbung fürs Klausurlesen (hat er extra erfunden) eingereicht. Möchte mich nämlich im Frühjar von ihm einsperren lassen, um Ein wenig Leben von Hanya Yanagihara zu lesen. Hanser hat sich die in den USA gefeierte Autorin und ihr heiß diskutiertes Buch A Little Life gesichert. »Eine Sensation!«, sagt Lendle. »Während Sie das Buch lesen, wollen Sie von niemanden gestört werden; danach wollen und müssen Sie mit ganz vielen Menschen sprechen.“ Bin gespannt, ob Hansers Coup aufgeht.
Die Agora diente im alten Griechenland als zentraler Fest-, Versammlungs- und Marktplatz. Die Agora der Buchmesse diente mir eher als Verkehrsknotenpunkt und als Verpflegungsstation. Zum Beispiel Belgische Frietjes in knallgelben Tüten, mit sehr guter Mayo. Mitagessen made in Flandern, nicht gesund, aber lekker.
Überhaupt den Flamen und den Niederländern konnte man nirgends entkommen. Die Ehrengäste waren omnipräsent, mit Programm und Plattformen in allen Hallen und Ecken. Das war gut so, denn selten zeigte sich ein Gastland (»Ich bin eigentlich zwei Gastländer!«) so vielseitig und quirlig, so heiter und ernst und so herrlich unberechenbar und anarchisch. Was ihr mit uns geteilt habt, werden wir wie Schätze hüten.
P.S.: Im dritten Anlauf endlich ein Messebier mit Stefan Möller getrunken.
P.P.S.: Stefan Weidle verteilte in kleinen Dosen die beste Medizin gegen #frankfurtfever. War irgendwas aus Schottland und schmeckte doch erstaunlich gut.
P.P.P.S.: Ich habe Menschen gesehen, die haben drei Stunden für ein Autogramm von Sebastian Fitzek angestanden. Danach haben sie geweint vor Glück.
P.P.P.P.S: Habe bei Preisverleihungen vielen lieben Menschen die Daumen gedrückt und wenn sie unverdientermaßen leer ausgingen, habe ich sie getröstet. (Den verdienten Gewinnern selbstverständlich herzlichst gratuliert. We are family!)
P.P.P.P.P.S: Viel gelesen haben wir ja nicht auf der Messe, aber gesammelt. Ein Hoch auf anstehende, lange Herbstlesetage.
P.P.P.P.P.P.S: Alle lieben Menschen, für die ich zu wenig Zeit hatte, die ich verpasst, nicht erkannt oder übersehen haben sollte (und das waren viele, sehr viele), bitte ich herzlichst um Verzeihung. Ein Messetag hat leider nur 24 Stunden. Wir holen alles nach, bei nächstbester Gelegenheit, versprochen!