Wenn der Kopf platzt und die Welt in Trümmern liegt
Ein Gespräch über »Die Welt im Rücken« von Thomas Melle
Hier geht es nicht um Abstraktion und Literatur, um Effekte und Dramatik. Hier geht es um eine Form von Wahrhaftigkeit. (…) Hier geht es um mein Leben, meine Krankheit in Reinform.
»The Elephant in the Room«, diese englische Redewendung beschreibt ein offensichtliches Problem, das alle ignorieren. Da steht ein Elefant im Zimmer und alle übersehen ihn, er wird schon wieder verschwinden. Doch er druckt alle an die Wand, während sie an ihm vorbeistarren. Der Elefant im Leben des Thomas Melle heißt »Bipolare Störung«, bekannter unter der Bezeichnung »manische Depression«.
In Die Welt im Rücken pirscht sich Melle an diesen Elefanten heran, kreist ihn ein, bildet ihn ab, zeigt wie er jegliches Porzellan zerschlägt, alles erdrückt, ihn, seine Freunde, sein Leben. Melle stellt sich seiner Krankheit und protokolliert rücksichtslos, wie sie ihn hin und her schleudert. Thematisiert hat Melle das Manisch-Depressive bereits in seinen früheren Romane Sickster und 3000 Euro, aber nicht ehrlich genug, sagt er, nicht wahrhaftig. Die Welt im Rücken ist radikal ehrlich, projeziert die Innenwelt des Erkrankten, das Getrieben in der manischen Phase und den Sturz ins bodenlose Loch der Depression. Thomas Melle wirft hier ein Lot tief in die eigene Biographie und wertet seine Messungen literarisch aus, schonungslos, sprachgewaltig und radikal.
Diese Selbstvergewisserung ist Thomas Melle so gut gelungen, dass sie auch denen zur Richtschnur gereicht, die keine Berührung zu dieser Krankheit haben, nicht einmal eine annähernde Vorstellung davon besitzen, wie es ist, wenn der Kopf platzt. Literatur beweist hier eindrücklich eine ihrer besonderen Stärken: dem Leser erfahrbar zu machen, was ausserhalb seiner eigenen sinnlichen Erfahrung liegt. Große Worte, ja, aber Melle schafft das tatsächlich wie vor ihm kaum jemand. Thomas Melle wird zurecht von vielen als Favorit für den Deutschen Buchpreises 2016 gehandelt.
Ich habe mich über Die Welt im Rücken mit Sophie Weigand unterhalten, sie ist Mitstreiterin im Kreis der diesjährigen Buchpreisblogger und hat zuvor auf ihrem Blog literaturen Melle ausführlich besprochen.

Jochen Kienbaum: Wir sind uns einig, denke ich, dass der Text von Thomas Melle außergewöhnlich ist, oder?! Er ist aufwühlend, mitreißend, brutal und traurig, auf der anderen Seite wartet er aber auch mit irrwitziger Komik auf. Selten hat mich ein Text so berührt. Im Kino oder im Theater habe ich bei emotionalen Momenten nahe am Wasser gebaut, aber ich lese meist sehr nüchtern und rational. Thomas Melle jedoch vermochte es, mich mit seinem Text oft direkt physisch zu schütteln und zu erschüttern. Wie erging es Dir? Einige Leser haben ja in Blogs oder Netzwerkpostings offen gestanden, den Text nicht zu Ende lesen zu können, weil er so schmerzhaft und angreifend sei.
Sophie Weigand: Ja, ich denke, da sind wir uns vollkommen einig. Mich hat selten in der letzten Zeit ein Text so gefangengenommen. Und zwar auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Psychisch einerseits, andererseits habe ich es aber auch als fast körperliche Erfahrung empfunden. Der Text hat mich aufgeputscht, verschlungen, ich konnte ihn gar nicht mehr beiseitelegen und wenn ich es getan habe, hat er in mir weitergearbeitet.
J.K.: Die intensive physische Erfahrung, die der Text auslöst ist wirklich frappierend. Mir fällt es schwer, die Auslöser dafür auszumachen. Wie hast du das empfunden?
S.W.: Mich hat die Sprache begeistert, das einerseits Überschäumende, andererseits aber auch so Präzise, Analytische. Dann habe ich immer wieder innegehalten und ein schlechtes Gewissen über meine Begeisterung verspürt, die genau genommen auch etwas Voyeuristisches hatte. Ich musste wissen, was noch geschieht, welche Bereiche von Melles Leben die Manie womöglich noch kontaminiert, was sie noch in den Abgrund reißt. Ich habe das Buch insgesamt auch als schmerzhaft empfunden, als erschütternd, aber eben auch als wahrhaftig in einer Form, wie ich es selten gelesen habe. Obwohl er autobiographisch ist, verkommt der Text nie zur Nabelschau. Und das zu vermeiden ist, meines Erachtens, nicht so einfach, wie es sich anhört. Da bedarf es der gekonnten literarischen Komposition.

J.K.: Der »Deutsche Buchpreis« sucht den besten Roman des Jahres. Nur hat Melle keinen Roman geschrieben, wie kam er auf die Long- und (verdientermaßen, um das deutlich auszusprechen) auch auf die Shortlist? Eine Gattungsbezeichnung hat der Autor dem Text verweigert. Bereits mehrfach hat Melle in früheren Romane seine bipolare Störung literarisch verarbeitet, allerdings mit Distanz, weil auf fiktionale Personen und Situationen übertragen, hat sie also bewusst vom eigenen ich getrennt. Hier nun wird er protokollarisch und extrem persönlich. Doch das ist weder Tagebuch, noch psychologisches Journal, eher eine Selbstvergewisserung, ein seitenlanger Aufruf, weiterzumachen, weiterzuleben, sich nicht von der Krankheit niederdrücken und besiegen zu lassen. Ein Text den der Autor eigentlich nur für sich selbst verfasst, um ihn dann doch freimütig der Öffentlichkeit zu präsentieren, um damit zu sagen: »Haltet mir das vor, erinnert mich daran, wenn die Krankheit zurükkehren sollte, mich wieder durchdrehen läßt und mich niederschmettert. Hierdrin steckt das Geheimnis, wie es doch weitergehen kann und muss.« Das im Hinterkopf, bewundere ich um so mehr, wie versiert und gekonnt Melle literarische Stile und Techniken auf diese »selbstvergewissernde Selbstzerfleischung« anwendet. Das ist kein Text, der schnell aus der Feder floss und dann rausging, da wurde enorm viel Wille, Zeit und Kraft in die Gestaltung investiert. Herauskam ein literarisch bravuröses Zwitterwesen, ein Hybrid aus Tagebuch, Roman und medizinischer Akte.
S.W.: Offensichtlich sind die Kriterien im Hinblick auf die nominierfähigen Texte etwas gelockert worden. Das konnte man ja allerdings schon in anderen Jahrgängen beobachten, Urs Widmers Reise an den Rand des Universums, Meyerhoffs Trilogie Alle Toten fliegen hoch, Eva Schmidt mit ihren Miniaturen in diesem Jahr. Es gab immer Ausreißer aus dieser Vorgabe, den besten Roman zu küren. Thomas Melle selbst will seinen Text ja nicht als Autobiographie verstanden wissen, allerdings behandelt er so offenkundig reale Erlebnisse des Autors aus seiner Perspektive und nicht aus der Sicht irgendeiner fiktiven Figur, dass das Autobiographische nicht wegdiskutiert werden kann. In seiner Konzentration auf die psychische Erkrankung und seiner Komposition im Allgemeinen, ist der Text aber deutlich zu literarisiert, um konventionelle Biographie zu sein. Hier geht es nicht um ein ganzes Leben, nicht um eine Lebensbeschreibung in all ihren Facetten, sondern um einen lebensbestimmenden Ausschnitt, der mit literarischen Mitteln be- und verarbeitet wurde. Ein autobiographischer Roman? Eine literarisierte Autobiographie? Ich könnte mich da auch nicht festlegen. In der Begründung der Buchpreisjury finden sich so schwammige Lobhudeleien wie „erzählt von der verwundbaren Conditio Humana in unseren Zeiten“, es sei „ein Stimmungsbild der popkulturellen Gegenwart“. Damit entzieht man sich so ein bisschen der Frage, was das für ein Text ist und inwiefern er tatsächlich über das persönliche Erleben des Autors hinausweist. Ich halte solche Zuschreibungen, wie die Jury sie tätigt, offen gestanden für übertrieben. Und irgendwie ist es auch unzulässig, den Ausnahmezustand einer schweren psychischen Störung als allgemeinmenschliche Zustandsbeschreibung unserer Gegenwart aufzublasen. Auch wenn sich das gut anhört. Für Thomas Melle war es ein Freischreiben, sowas wie ein Bannzauber für die Zukunft, eine Selbstvergewisserung, vielleicht auch ein Ankommen an einem Punkt, wo er offen sagen kann: Das gehört zu mir. Schreibt sich jetzt so leicht, ist aber wahrscheinlich ein jahrelanger Prozess.
J.K.: Ganz gleich, welches Gattungs-Etikett nun auf dem Buch kleben könnte, ich würde Melle jedenfalls von ganzem Herzen den Buchpreis gönnen. Nur, hat die Jury den Mut, nach Frank Witzels »Teenager…« im vergangenen Jahr auch 2016 einen, um es flapsig auszudrücken, »manisch-depressiven« Roman auszuzeichnen? Freilich nähern sich beide dem Thema aus verschiedenen Richtungen und arbeiten beide jeweils anderen Mitteln und Methoden. Witzel hat seine Figur krank sein lassen und gleichzeitig den Text selbst, er versucht, das unkontrolliert (über)treibende des Manischen und das (aus)bremsende Kreiseln des Depressiven mit literarischen Mitteln nachzuahmen und läßt es seine Figur auf die Historie Nachkriegsdeutschlands übertragen. Interessanterweise war auch Witzels Text über weite Strecken autobiographisch unterfüttert. Witzels Text ist sehr artifizell und blickt eher von aussen auf die Krankheit, Melle von innen, sein Text ist ungeschminkter und persönlicher. Wie auch immer, Melles Die Welt im Rücken ist auf seine Weise einzigartig und groß und bleibt mein Favorit für den Buchpreis.
S.W.: Ich kann nur hoffen, dass die Jury sich nicht in irgendeiner Form von Vorjahresentscheidungen beeinflussen lässt. Zwar mögen beide Texte einen ähnlichen Ausgangspunkt haben und auf ähnlich artifizielle Art versuchen, das innere Erleben auch in eine angemessene Textstruktur zu überführen. Aber Witzel bettet das, soweit ich es beurteilen kann, ja noch in einen viel größeren zeitgeschichtlichen Kontext, während Thomas Melle dieser Kontext eher zweitrangig ist. Ausgehend von der literarischen Qualität und der Dringlichkeit des Textes ist Die Welt im Rücken unbedingt preiswüdig. Was mich in diesem Zusammenhang oft betrübt, sind die nachvollziehbaren Berührungsängste vieler mit einem Buch wie diesem. Denn ich bin überzeugt, dass es auf verständliche und nachvollziehbare Art Einblick in ein Thema gewährt, von dem viele von uns wenig wissen (wollen). Aber ich kann da wohl auch nicht von mir ausgehen. Ich lasse mich sehr leicht »anfixen« von solchen Themen.
J.K.: Danke, Sophie, für dieses Gespräch. Egal ob Melle den Buchpreis gewinnt oder nicht, sein Text ist gefragt und viel gelesen. Die Welt im Rücken hat die 5. Auflage erreicht.
Thomas Melle: Die Welt im Rücken
Gebunden, 352 Seiten
Berlin: Rowohlt Berlin 2016
Mehr Informationen zum Buch und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
Weitere Besprechungen zu Thomas Melles Die Welt im Rücken bei Gérard Otremba, Sounds & Books und Tobias Nazemi, buchrevier.
Bildnachweis: Portrait Sophie Weigand von Chris Zielecki | Titelfoto von Mathew Wiebe, StockSnap