Buchmessesplitter – Das war Leipzig 2016
Nach der Messe ist vor der Messe. Leipzig liegt hinter mir, hinter uns. Es war schön, anstrengend, aufmunternd und erschlagend wie immer. Am Ortsausgangsschild von Leipzig fliegen die Gedanken und Wünsche bereits in Richtung Frankfurt. Dort steigt vom 19. bis zum 23. Oktober dann das nächste »Klassentreffen«. Doch erst einmal gilt es, sich zu sortieren, dutzende Seiten mit enorm wichtigen, aber leider unleserlichen Notizen zu entziffern, verlangte und unverlangte Büchergaben zu sichten, Vorvorschauen zu rekapitulieren und Bilanz zu ziehen.
Unschön war die dunkle Macht in Halle 5. Der rechtsnationale Compact-Magazin-Verlag (bitte nicht googeln!) sicherte seinen Stand mit finsteren Securitygestalten, die leicht anders verkleidet bei jeder Neonazidemo problemlos alle Gesichts- und Gesinnungskontrollen passiert hätten. Kein schönes Bild auf der ansonsten so bunten und fröhlichen Buchmesse, aber das haben wir zur ertragen in einer Demokratie. Doch täglich regte sich Widerstand gegen die an Position H5/E405 (klingt wie ein Entlaubungsmittel) verbreiteten Un-Informationen. Friedlicher Protest und Widerspruch gegen dunkel-dumpfe Ideologie. Ein hoffnungsvolles Zeichen.
Keine Messe ohne Debatte: Die Literaturblogs und das Feuilleton. Ja, ja, ein alter Hut, aber er wird immer wieder gerne aufgesetzt. »Das Problem besteht nicht darin dass es zu wenige Rezensionen gibt, sondern dass alle über die gleichen Bücher schreiben«, sagt Ijoma Mangold, ändert das bei im ZEIT-Feuilleton aber nicht und bekennt, kein Blogs zu lesen (»Mein Medium ist Facebook, das reicht mir um über aktuelleTrends informiert zu sein.«). Die Buchbeschleuniger versuchten das Thema Literatur zwischen Feuilleton und Blogosphäre auszuloten. Das Problem: der Begriff Feuilleton umreißt noch eine einigermaßen homogen gefügte Institution, die Blogosphäre aber ist derart diversifiziert, dass mit diesem schönen aber leeren Begriff alles und nichts gesagt ist. (Wie sehr sich die Etablierten damit immer noch plagen, zeigen mehr oder weniger geistreiche Artikel im Onlineangebot unter anderem vom Focus und von der Frankfurter Rundschau.) Fazit der Podiumsdiskussion, bei der oben, vorne leider kein Blogger saß: seid mutig, seit anders, seid anarchistisch, seid internetaffin und kreativ. Dann sind Blogs eine ernsthafte Konkurrenz=Ergänzung fürs Feuilleton; noch liegt die Meinungshoheit dort im Spielfeld, aber sie kann ja das Spielfeld wechseln, vielleicht, irgendwann. Die Verlagsvertreter (auf diesem Podium und auf der Messe überhaupt) haben das längst umrissen, Herr Mangold und (viele) seine(r) Kollegen noch nicht; ob aus Beharrlichkeit, festem Glauben an die Unerschütterlichkeit ihrer Institution oder aus Trotz muss vorerst offenbleiben.
Folgerichtig wagt sich zeitgleich zur (virulenten) Messediskussion tell – Magazin für Literatur und Zeitgenossenschaft auf der Messe in die Öffentlichkeit. Die kreative Findungsphase ist vorbei, jetzt zählt das Überleben in der harten Realität. »Wir gehen mit der Wünschelrute durch die Literatur und folgen dem Prinzip, das schon die Andere Bibliothek von Enzensberger mit Energie versorgte: Wir schreiben auf tell, was wir selber lesen möchten.« Alle sind aufgefordert mitzudiskutieren und sich einzumischen. tell ist ein Resultat aus der von Jörg Sundermeier im Sonntagsgespräch angeschobenen und von Wolfram Schütte auf Perlentaucher beschleunigten, inzwischen notorischen Literaturdebatte. tell will nicht das Feulliteon ins internet hineinkopieren, sondern neue Formen der Literaturbewertung und neuen Umgang mit der Kritik erforschen. Ein Experiment, das finanziell (noch) auf leicht wackeligen Füßen steht, dem aber sehr, sehr viele Leser und Mitspieler zu wünschen sind. Also, lest und mischt Euch ein!
Kurzer Exkurs: Die buchmesse: blogger sessions 16 habe ich leider selbst nicht besuchen können. Aber Dank voice republic sind sie auch nachträglich noch zu verfolgen. »Kommt raus aus der Flauschzone. Professionalisiert Euch« hat Karla Paul (Bloggerin bei Buchkolumne und Verlegerin bei Edel: eBooks) dem Auditorium in ihrer Keynote zugerufen (nachzulesen hier und nachzuhören hier). Vertieft wurden Karla Pauls Thesen in einer Podiumsrunde zum Thema »Professionalisierung von Blogs« (nachzuhören hier) mit Ute Nöth, Leander Wattig und Susanne Kasper. Für mich als Blogger haben sich hier (nachträglich) einige Horizonte geweitet und ich habe einige Anregungen aus der Diskussion mitgenommen.
Ach ja, der Buchpreis der Leipziger Buchmesse wurde auch noch verliehen. Wieder einmal war’s ein Verantaltung ohne Glammer und Prunk. Obwohl die Sonne munter die Glashalle erhitzte, liess das Publikum die »Show« eher kühl an sich vorbeiziehen. Jurysprecherin Kristina Maidt-Zinke schrieb der versammelten Kritikerschar ins Stammbuch, sich nicht als Trendscout zu verdingen, sondern fernab vom Seichten die wahren literarischen Tiefen auszuloten. Folgerichtig wurden dann mit Guntram Vesper für Frohburg, Jürgen Goldstein für Georg Forster und Brigitte Döbert für ihre Übersetzung von Bora Ćosićs Die Tutoren heuer drei schwergewichtige, ja, auch sperrige, aber würdige Preisträger gefunden; alle kommen aus unabhängigen Verlagen und gleich zwei von ihnen verdanken wir dem verlegerischen Mut im Hause Schöffling & Co. – Chapeau und Gratulation! (Anmerkung 1: »Verleger-Urgestein« Klaus Schöffling war selbst perplex angesichts der Sympathiewellen, die ihm entgegenschlugen. Anmerkung 2: Hinterher läßt es sich leicht behaupten, aber es stimmt: alle drei waren meine Favoriten.)
Frohburg und Die Tutoren, zwei 1000-Seiter, zwei literarische Monolithen, die noch meiner »kritischen Würdigung« harren. Aber soviel steht fest: der Trend, das ließen die mit Verlagsvertreter*innen auf der Messe geführten Gespräche klar erkennen, zum widerspenstigen, fordernden und herausfordernden Buch, obendrein zum dicken Buch, hält an, zumindest bei lustauflesen.de. Noch darf ich nicht verraten, welche Verlage von welchen Autoren neue und sehr dicke Werke anbieten. Aber es sind große Namen dabei und große Werke und einige Überraschungen, versprochen!
Zum Abschluss etwas sehr persönliches: Vom Ende der Einsamkeit, den jüngsten Roman von Benedict Wells, wollte ich eigentlich nicht lesen, zu viel Hype umgehe ich gerne. Jetzt lese ich ihn aber doch. Warum? Weil Benedict Wells, dieser smarte Jungstar des Diogenes Verlages, bei einem Treffen mit Buchbloggern so eloqent, witzig, schlagfertig und humorvoll über seine Arbeit als Romanschriftsteller und Drehbuchautor Auskünfte erteilte, nebenbei Anekdoten abspulte, so feuerwerkartig=briliant und wie gedruckt, dass man ihn einfach lieben muss. Für diese höchst amüsanten und kurzweiligen 70 Minuten revanchiere ich mich gerne mit der Lektüre seines Romans; das haben sie sich verdient, der Benedict und sein Roman.
P.S.: Jan Drees (Lesen mit Links) hat das »A – Z Buchblogs« aufgestellt. Augenzwinkernd, aber ehrlich. – Und für ZEIT-Online stellte Wiebke Porombka vielen Buchmessemenschen viele Fragen … und bekam viele Antworten zum Literaturbetrieb: »Als Lebensinstallation großartig!«
P.P.S.: Buchmesse, das heißt auch: ich habe viele liebe Freundinnen und Freunde wiedergetroffen, viele digital-virtuelle Kontakte ins echt-analoge Leben überführt, viele nette Menschen neu kennengelernt. Viel gelaufen, viel geschoben, viel geredet, viel gelacht…