»Die taubengrauen Schwestern« – Charlotte Brontë zum 200. Geburtstag
Haworth in Yorkshire muss Anfang des 19. Jahrhunderts wahrlich kein einladendes Städtchen gewesen sein. Im Ort qualmen die Industrieschlote und ausserhalb findet sich nichts als eine karge, verregnete Einöde. Über die feuchten Moore und kahlen Hügel pfeift der Wind. Öde, verlassen und unwirtlich. Im 20. Jahrhundert allerdings hat sich Haworth zur Pilgerstätte für Literaturliebhaber aus aller Welt gemausert. Denn im Pfarrhaus des einst so unwirtlichen Ortes sind die Geschwister Brontë aufgewachsen. Charlotte, die Älteste, feiert heute ihren 200. Geburtstag.
Rückblende: im Jahr 1826 ist Charlotte 10 Jahre alt, ihr Bruder Patrick Branwell 9, die mittlere Schwester Emily 8 und die jüngste Schwester Anne 6. Es sind aufgeweckte und begabte Kinder, doch sie leiden an den Verhältnissen. Die Mutter ist früh gestorben, ebenso zwei weitere Schwestern, der Vater, ein durchaus begabter Dichter, Redner und Prediger, trinkt, grübelt und ist mitunter unbeherrscht. Er zieht sich stunden-, tagelang zurück. Die Erziehung der Kinder hat eine kränkelnde und überforderte Tante übernommen. Die 3 Mädchen und der Junge haben kaum Freunde und Spielkameraden, aber sie lesen viel und geben sich ihrer Phantasie hin, schaffen sich über 16 Jahre hinweg in einem langen Gedankenspiel eine künstliche Welt, Angria & Gondal.
Vier Königreiche mit vier großen Schutzgeistern, Tallii (Charlotte), Brandii (Branwell), Emmii (Emily) und Annii (Anne). Ausgangspunkt des Gedankenspiels war ein Trupp Holzsoldaten, die der Vater Branwell von einer Reise mitgebracht hatte, jedes der Geschwister pickte sich einen als persönlichen Helden heraus und so nahm die gewaltige Welterfindung ihren Lauf. Das Gedankenspiel, so Arno Schmidt, unterscheidet sich vom »Traum« maßgeblich darin, dass ein Traum »unbewußt passiv« erlebt und erlitten wird, das Gedankenspiel dagegen primär ein »bewußt aktiver« Akt ist. Aber natürlich langt das Unbewußte auch ins Gedankenspiel hinein und nicht immer kann es durch überarbeitende, »reflektiv-rationale« Eingriffe im Nachhinein vollkommen eliminiert werden. (Was nebenbei das Gedankenspiel auch für Psychologen äußerst interessant macht.)
Zurück zu den vier Kindern im Pfarrhaus: Ihre mystisch-sentimental verklärte Kunstwelt wächst ins Uferlose, und damit sie den Überblick behalten, beginnen die Geschwister ab 1829 allesakribisch niederzuschreiben. Mehr als 100 mit kleinster Schrift eng beschriebene Hefte sind erhalten. Mit Angria & Gondal zementieren die Brontës, »die taubengrauen Schwestern«, wie Arno Schmidt sie nennt, ihr literarisches Fundament. »We pretended we had each a large island inhabited by people 6 miles high!«
Sie mussten schreiben, es war die zunächst einzige Chance, der Muffigkeit des Pfarrhauses und der verstockten Engstrirnigkeit Haworth’ zu entkommen. Schreiben als Flucht, schreiben um geistig zu überleben, der harten realität die Stirn zu bieten. In Angria & Gondal war die Welt in Ordnung, der anschließende Zusammenprall der Geschwister mit der Wirklichkeit war niederschmetternd. Charlotte und Emily arbeiteten zeitweise als Gouvernanten und Lehrerinnen, ohne große Leidenschaft und Erfolg. Anschließend ging beide nach Brüssel, um Französisch zu studieren, doch Emily brach die Ausbildung schnell ab, kehrte nach England zurück und führte seitdem die Geschicke des Pfarrhauses in Haworth. Charlotte folgte ihr kurze Zeit später nach. Ihr Versuch eine eigene Schule in Haworth zu etablieren, schlug fehl. Die jüngste Schwester Anne war (ebenfalls) als Gouvernante tätig. Bei ihrer zweiten Anstellung wurde sie von ihrem Bruder Branwell begleitet, der Hauslehrer des Sohnes der Familie wurde. Doch ein Verhältnis Branwells mit der Dame des Hauses setzte der Tätigkeit beider ein jähes Ende.
So waren die Geschwister Brontë wieder in Haworth vereint, tauchten auch wieder ab in Angria & Gondal. Die Schriftstellerei wurde erneut zum Anker und einzig mögliche Zukunftsperspektive. Als Konsequenz daraus erschien 1846 ein gemeinsamer Gedichtband der drei Schwestern, veröffentlicht unter Pseudonym. Die Lyriksammlung wurde ein Ladenhüter, nur zwei Exemplare gingen über die Theke. Doch die Brontës steckten nicht auf. Ein Jahr später folgte der zweite Anlauf. Drei Romane erschienen nahezu gleichzeitig.
Jane Eyre von Charlotte (alias: Currer Bell), Wuthering Heights von Emily (alias: Ellis Bell) und Agnes Grey von Anne (alias: Acton Bell). Alle drei Romane entwuchsen eindeutig der Sphäre von Angria & Gondal. Dort wurden bereits viele Grundmuster der Handlungen, Figurenkonstellationen, die wesentlichen sentimentalistischen Züge und Motive angelegt, alle drei variierten diese Grundmuster freilich mit ihren persönlichen Erfahrungen und ihren spezifischen Weltwahrnehmungen. Die jeweils biographischen Horizonte, auch wenn sie äußerlich nicht sonderlich stark differierten, stifteten im Inneren das übrige. Die drei Erstlimge, bei Emily sollte es auch der einzige bleiben, gelten bei vielen Lesern bis heute auch als die jeweils besten Romane. Jane Eyre entwickelte sich sogar zum veritablen Bestseller und Charlotte war zumindest aller finanzieller Sorgen ledig.
Doch wer nun Glamour und Ruhm erwartete, ging fehl. Das Leben in Haworth blieb karg und hart und einsam. Bruder Branwell, der durchaus das Talent zum Maler besessen hätte, verfiel zunehmend dem Alkohol und starb 1848. Anne erlag ein halbes Jahr später der Tuberkulose. Nur ein weiteres halbes Jahr verging bis Emily, »der eisengraue, weibliche Dschinn« (Arno Schmidt), vermutlich ebenfalls an Tuberkulose verstarb. Charlotte heiratete 1854 Arthur Bell Nicholls, den Hilfspfarrer ihres Vaters, doch das Glück des Ehelebens blieb ihr versagt, 1955 starb sie während ihrer ersten Schwangerschaft. Die Diagnose lautete auch hier Tuberkulose, beziehungsweise Lungenentszündung.
Für uns »Leser; Genießer; Pädagogen; Psychologen; Soziologen;« stecke in Angria & Gondal, so Arno Schmidt, der wahre Schlüssel zum Werk der »taubengrauen Schwestern« Brontë, alle späteren Gedichte und Romane seien nur verklausulierte und abgeschwächte Varianten der eigentlichen Brontëschen Urliteratur. Diese steile These zu überprüfen ist nicht ganz einfach, denn die jugendlichen Werke der Schwestern mit ihrer phantastisch wuchernden Traumwelt sind nur in Auszügen veröffentlicht; und die leider auch (noch) nicht in deutscher Übersetzung. (Edit: hier habe ich mich geirrt. Bitte beachten Sie den Kommentar von Friedhelm Rathjen am Ende dieses Beitrages.)
Selected early Writings
Edited by Christine Alexander
Paperback, 680 Seiten
Oxford: Oxford University Press 2010
Webseite der Oxford University Press
Exzellent übersetzt von Andrea Ott aber ist Jane Eyre erhältlich, der immer noch sehr gut lesbare und gar nicht so unzeitgemäße Erstling von Charlotte Brontë. Der Manesse Verlag hat ihn pünktlich zum 200. Geburtstag der Autorin in einer wohlfeilen und überarbeiteten Sonderausgabe neu aufgelegt.
Aus dem Englischen übersetzt und für diese Ausgabe sorgfältig durchgesehen von Andrea Ott
Nachwort von Elfi Bettinger
Gebunden, 608 Seiten
Ort: Zürich: Manesse 2016
Informationen zum Buch auf der Webseite des Verlages
Ich persönlich ziehe Wuthering Heights von Charlottes Schwester Emily vor. Gerade das, was kritisch und zum Teil harsch moniert wurde, als der Roman 1847 erschien, macht ihn für mich aus heutiger Sicht interessant. Es sind die Brüche in der Erzählstruktur, die abrupten Wechsel der Erzählperspektiven (Icherzählung, Briefe, Tagebücher, einfache Erzählung, frühe Formen des inneren Monologes), die mitunter ruppig-struppige Sprache (auch viel Dialekt), die den Roman »moderner« und kühner erscheinen lassen. Hier ist das raue, karg-öde Yorkshire der Geschwister eingefangen und festgehalten. »This woman had pure imagination!« soll James Joyce über Emily geurteilt haben.
Zur Vertiefung: Arno Schmidt, Angria & Gondal: Der Traum der taubengrauen Schwestern. In: A.S., Werke (Bargfelder Ausgabe, Band II, 2) Zürich: Haffmans Verlag 1990. Erstsendung des Funkdialogs: 30. April 1960, SDR. Redaktion Helmut Heißenbüttel.
Über Charlotte Brontë und ihre Romane erschien jüngst ein lesenswerter Artikel von Susanne Ostwald in der NZZ.
»Aus Sturm und Moor in die Welt hinaus«: Ein Reisebericht von Andrea Diener in der FAZ . Auf den Spuren der Brontës in Haworth.
Hoch leben Charlotte Brontë und Jane Eyre!