Wir werden den Tod schwerlich los – »Null K« von DeLillo
Es ist eine Wette auf ein bessere Zukunft. Eine Wette, die viel Geld verschlingt und letztlich das Leben kostet. Die kryonischen Konservierung friert den Körper ein und lagert ihn in einer Hochtechnologie-Gruft ein. Bei null Grad Kelvin, am absoluten Nullpunkt, wird von auf mögliche Heilung und Erlösung gesetzt, die sich irgendwann in einer näheren oder ferneren Zukunft einstellen mag, nach den »Maximen Massenwahn, Aberglauben, Arroganz und Selbsttäuschung«.
Der Multimilliadär Ross Lockhardt investiert in ein streng geheimes und verborgen agierendes Unternehmen, das diesen Traum verwirklichen soll. Er will sich zusammen mit seiner schwerkranken Ehefrau Artis einfrieren lassen. Wenn Medizin und Technik so weit sind, dass der Mensch ein ewiges Leben ohne Krankheit und Tod führen kann, werden sie wieder aufgetaut. Sein Sohn Jeffrey soll ihn und die Stiefmutter dabei begleiten und auf unbestimmte Zeit Abschied nehmen.
Ross Lockhardt sieht in diesem Unternehmen ein zuverlässigeres Versprechen als die unsäglichen Jenseitsversprechungen der Weltreligionen. Seinen Sohn ergreift in dieser Jenseits-Enklave für Superreiche dagegen nur eine ins Mark gehende beklemmende Stimmung. Die unterirdische Kryo-Station mit ihren unzähligen Etagen, endlosen fensterlosen Fluren und Zimmerfluchten schüchtert ihn mit ihrer aseptischen Nüchternheit und stylischen Kühle ein. Er ist zutiefst irritiert von den merkwürdigen Katastrophenvideos die über Bildschirme in den Fluren flimmern. Es sind Szenen, so kommt es ihm vor, die sich nach einer Weile über ihre eigene Oberflächlichkeit erheben. Er, der bislang eine Lebenskultur der Lethargie und Disziplinlosigkeit pflegte, ist verstört und abgestoßen von den vielen metaphysischen Rätseln, die sich ihm hier bieten.
Beinahe sektenartig agieren die Mitglieder der Kryo-Society in ihrer unterirdischen Welt. Jeffrey kommen sie zunehmend vor wie Proben in einer Petrischale im Labor, die Figuren flackern wie Geisterbilder durch die Flure, legen sich stoisch in die Tiefkühlboxen in den riesigen Lagerhallen und scheinen alle Zweifel abgelegt, sich von allem Lebendigen verabschiedet zu haben.
Nur auf den ersten Blick ist das eine spekulative Science Fiction Vision. Don DeLillo, der große, postmoderne Intellektuelle unter den US-Autoren, liefert mit Null K eine bestechende, kühle und kristalline Analyse der Verführbarkeit des Menschen durch Technologie und Massenmedien ab. Er zeigt wie fatal sich die Macht des Geldes und die Angst vorm Chaos als antonyme Kräfte überlagern und auslöschen. DeLillo lenkt den Blick auf all die künstlichen Realitäten, die in unser Leben eindringen und es übernehmen, weil wir es zulassen. Er verbindet dies mit der unterschwelligen Mahnung, diese Möglichkeiten zu präzisieren, sie scharf abzugrenzen, um sie im Zaum zu halten.
Hinter dem Gesumms der Modernität, der Technikgläubigkeit und dem ungehemmten Fortschrittsglauben geht verloren, wie wichtig die unterschwelligen und versteckten Töne des Alltags sind. Wir unterlassen es, anderen gutes zu tun und schaden somit dem Leben aller. Es geht um das, was wir erinnern und vergessen, was wir hüten und zerstören. Doch nicht diese Erkenntnis ist es, die Ross Lockhardt vom letzten Schritt (zunächst) abhält, sondern lediglich seine Feigheit.
Jeffrey dagegen stellt sich darauf ein, stimmt sich neu ab. Im zweiten Teil des Romanes begegnen wir in ihm einem Mann, der bereit ist sich den kleinen Freuden des Alltäglichen zu öffnen. Das Erbe seines Vaters interessiert ihn ebensowenig wie ein Sprung auf irgendeine höhere Sprosse irgendeiner Karriereleiter. Es gilt die Gräuel und Leiden des Lebens auszubalancieren mit kleinen Freuden: durch die Straßen zu strollen, spontan mit Fremden Gespräche zu beginnen oder einfach nur zu schauen ob die Geldbörse noch da ist. Immer wieder verharrt Jeffrey bei seinen Streifzügen durch die Stadt, um Bettler und Obdachlose zu beobachten, die ihm wie grazile Ballettänzer in eingefrorener Pose im Strom der globalisiert-kapitalistischen Massen vorkommen. Wie anders sein Vater, der vor dem entgültigen Entschluss zur eigenen Krykonservierung sich nur noch in ein Zimmer seiner Stadtvilla zurückzieht, um eine Sammlung monochromer Gemälde anzustarren.
Ohne Tod und Krankheit ist das Leben wertlos. Erwüchse nicht diese Erkenntnis aus dem grandiosen zweiten Teil des Textes, wäre Null K lediglich die unterkühlte Beschreibung eines irrationalen Albtraums. Es ist Stan, der geistig behinderte Sohn von Jeffreys Lebensgefährtin Emma, der den Gegenentwurf liefert und so Jeffreys Selbstrettung aus Lethargie und Blindheit gegenüber dem Wert des Lebens ermöglicht. Stan begleitet einen Sonnenuntergang in den Straßenschluchten der Stadt mit ehrfürchtigem Geheul, das erscheint Jeffrey angesichts des einstürzenden Himmels viel angemessener als jedes Wort. Staunende Schreie als reinste Verwunderung über die enge Berührung von Himmel und Erde. Im ganzen ein Schluss, der ungemein berührt und aufrüttelt, aber zugleich poetisch tröstet. Mit das Beste, das Don DeLillo je geschrieben hat.
Don DeLillos umkreist in bestechender Sprache und ziemlich nüchtern ein komplexes Thema. Null K ist eine anregende Meditation über den Tod, die Unsterblichkeit und das Leben. Gelassen und ruhig ist der Text und doch hört man ununterbrochen den eigenen Herzschlag laut pochen. Kein großes Orchesterwerk mit Pomp und krachenden Tutti wie Unterwelt, DeLillos immer noch beeindruckendes Großepos über die soziale Verfassung unserer Gesellschaft. Null K ist eher ein Kammermusikstück, das bis in kleinste Details fein konstruiert ist und bei allen Dissonanzen und schrägen Harmonien am Ende wohltemperiert klingt und äußerst beruhigend wirkt.
Eine anregende Lektüre, die die ganz großen Fragen stellt und letztlich ein vehementes Plädoyer für ein Leben im Hier und Jetzt vorträgt.
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Frank Heibert
Gebunden, 288 Seiten
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2016
Weitere Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
Titelfoto: Delicious Hands | von Andrew E. Weber | Quelle: Tookapic