Der Gang vor die Hunde – Fabian in der Urfassung
Ich kann vieles und will nichts. Wozu soll ich vorwärts kommen? Wofür und wogegen? Nehmen wir wirklich einmal an, ich sei Träger einer Funktion. Wo ist das System, in dem ich funktionieren kann? Es ist nicht da, und nichts hat Sinn.
Das brodelnde Berlin zur Zeit der Weimarer Republik. Die Wirtschaft liegt am Boden, die Arbeitslosenzahlen steigen, Sitte und Anstand lassen alle Hüllen fallen. Durch diese Großstadt ohne Halt streift der arbeitslose Akademiker Jakob Fabian und erlebt den politischen und moralischen Ausnahmezustand. Sein Freund tötet sich selbst, seine Geliebte prostituiert sich für ihren Traum nach Ruhm, selbst der Rückzug in seine Geburtsstadt, die Flucht zur geliebten Mutter, ändert nichts; auch der Held des Romans geht unter.
Fabian beugte sich über das breite Geländer. Er sah den Kopf des Kindes und die Hände, die das Wasser schlugen. Da zog er die Jacke aus und sprang, das Kind zu retten, hinterher. (…) Am Ufer rannten aufgeregte Leute hin und wider.
Der kleine Junge schwamm heulend ans Ufer.
Fabian ertrank. Er konnte nicht schwimmen.
Erich Kästner hat Fabian 1931 veröffentlicht, der Roman wurde zu einem Publikumserfolg und der ohnehin schon berühmte Autor noch berühmter. Für die Kritiker der national gesinnten und nationalsozialistischen Presseorgane freilich war das zuviel. Sie sahen nur Schmutz und Schund; zwei Jahre später verbrannten die Nazis mit den Worten „Gegen Dekadenz und moralischen Zerfall. Für Zucht und Sitte in Familie und Staat!“ auch Kästners Werke. Er selbst wurde Augenzeuge dieser Barbarei auf dem Berliner Opernplatz.
Dass der Verlag (DVA), zum Teil gegen den Widerstand des Autors, den Roman Fabian. Die Geschichte eines Moralisten vor der Veröffentlichung mit spitzen Fingern entschärft hatte, ist lange bekannt, auch, dass er trotzdem ein Sprengsatz blieb. Über Quantität und Qualität der Eingriffe konnte bislang nur spekuliert werden; einige wurden im Anhang der kommentierten Kästner-Werkausgabe (hg. von Franz Josef Görtz, München (Hanser) 1999) mitgeteilt. Nun ist erstmals die vollständige Urfassung zu lesen. Der Gemanist Sven Hanuschek hat sie rekonstruiert und unter dem ursprünglich von Kästner gewünschten Titel Der Gang vor die Hunde neu herausgegeben.
Das Typoskript und die Neuausgabe
Das Typoskript mit handschriftlichen Korrekturen liegt im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Kästner selbst schien mit der Erstfassung des Romans abgeschlossen zu haben, denn bei allen Nachkriegsausgaben seiner Werke, an denen er noch mitgearbeitet hat, verzichtete er auf rekonstruierende Eingriffe; vielleicht aber hatte er auch einfach keine Kenntnis vom Überleben des ursprünglichen Typoskriptes in den Kriegs- und Nachkriegswirren.
Was hier, etwas mehr als 80 Jahre nach der Erstausgabe, vorliegt, ist keine historisch-kritische Edition im strengen wissenschaftlichen Sinn, auch ist es kein gänzlich neuer und überraschend anderer Fabian. Aber darüber muss niemand enttäuscht sein. Im Gegenteil. Hanuschek leistet literaturwissenschaftliche Editionsarbeit im Sinne der Leser, ihm ist an einer geschlossenen Lesefassung gelegen. Alle für das Verständnis wichtigen Textvarianten sind in einem kleinen kritischen Apparat ausführlich gelistet, die wenigen wirklich umfangreicheren Abweichungen der Erstausgabe gegenüber der Urfassung sind sogar vollständig abgedruckt. Auch die beiden Nachworte Kästners (Für die Sittenrichter und Für die Kunstrichter), die 1931 nicht im Band selbst, sondern nur in der Zeitschrift Weltbühne zu lesen waren, wurden aufgenommen, ferner zwei weitere Nachworte zu den Nachkriegsausgaben.
Nachworte, kritischer Apparat und ein erhellendes und sehr informatives Nachwort des Herausgebers nehmen knapp ein Drittel der vorliegenden Ausgabe ein. Viel ist hier zu erfahren über die Entstehungsgeschichte des Romans, die Selbstzensur durch Verlag und Autor, die möglichen Vorbilder der Figuren, die politische und satirische Dimension des Textes und die Rezeptionsgeschichte. Allein dieses gelehrte, aber nie belehrende Nachwort lohnt die Anschaffung.
Kästner heute lesen
Dieses Buch ist nichts für Konfirmanden, ganz gleich, wie alt sie sind. Der Autor weist wiederholt auf die anatomische Verschiedenheit der Geschlechter hin. Er lässt in verschiedenen Kapiteln unbekleidete Damen und andere Frauen herumlaufen. Er deutet wiederholt jenen Vorgang an, den man, temperamentloserweise, Beischlaf nennt. Er trägt nicht einmal Bedenken abnorme Spielarten des Geschlechtslebens zu erwähnen. Er unterlässt nichts, was die Sittenrichter zu der Bemerkung veranlassen könnte: Dieser Mensch ist ein Schweinigel. Der Autor erwidert hierauf: Ich bin ein Moralist!
Heute schießt niemandem mehr Schamesröte ins Gesicht; das Sittengemälde wirkt eher unfreiwillig komisch, auf den ersten Blick. Doch genauer betrachtet zeigt es feine satirische Spitzen, ist mit scharfer Feder gezeichnet, reich an Details und voller Ironie. Die Urfassung nennt an einigen Stellen Roß und Reiter direkter beim Namen, verschleiert weniger die politischen Anspielungen und kommt schneller zum Punkt als die entschärfte Version des Romans.
Auch Fabians Leidensfähigkeit, seine merkwürdig distanzierte Haltung zum Geschehen und sein dadurch umso mehr gesteigerter Leidensdruck sind markanter gezeichnet. Fabian agiert nicht, er beobachtet. Nur einmal greift er ein und verprügelt den neidzerfressenen Universitätsassistenten, der seinen Freund Labude mit einem üblen Scherz in den Suizid getrieben hat. Fabian ist ein getriebener Mensch, kein handelnder;
Das hatte er davon, dass er sich einbildete, der Globus drehe sich nur, solange er ihm dabei zuschaue.
Weil er die Haltung des Moralisten über alles liebt, verliert Kästner mitunter die Form des Textes aus den Augen. (Die Gleichsetzung von Autor und Erzähler sei hier gestattet.) Der Roman findet kein wirkliches Genre, changiert zwischen Großstadtroman, Märchen für Erwachsene, Satire und Fabel. Die Sprache ist knapp, direkt, lakonisch und gelegentlich auch etwas holprig. Dieser Schwächen war sich Kästner durchaus bewußt;
Das Buch hat keine Handlung und keinen architektonischen Aufbau und keine sinngemäß verteilten Akzente und keinen befriedigenden Schluss. Man vermutet richtig, ob man es nun für richtig hält oder nicht: Es war so die Absicht!
Wieder einmal hilft auch hier der zweite, der genauere Blick; denn gerade die vermeintliche Schwäche des Buches ist seine Stärke. Der Gang vor die Hunde ist ein eindrückliches Zeugnis seiner Zeit und ein nachhaltiges Leseerlebnis, auch heute noch. Erst Recht dank der hier vorliegenden Urfassung, mit ihrem kritischen Apparat und ihrem reichen Anhang.
Herausgegeben von Sven Hanuschek
Gebunden, 320 Seiten
Zürich: Atrium Verlag 2013
Mehr Infos zum Buch auf der Webseite des Verlages.
Der Gang vor die Hunde ist auch als e-Book und als vollständige Lesung auf CD erhältlich.