„Alles Geschaffene in Erd- und Himmelsraum“
Am 14. September 1769 kam Alexander von Humboldt zur Welt. Ein leicht verspätetes Ständchen zum 245. Wiegenfest und ein Plädoyer, Humboldts Kosmos zu lesen.
Nun will ich denn auch des großen Vergnügens gedenken, dass mir von Humboldts prächtig-reiches Naturwunderkollegium gewährt. (…) Ein Mann steht vor mir meiner Art, der hat, was er gibt, – ohne zu wissen, zu kargen wem, – keine Kapitel macht, kein Dunst, keine Kunst. Selbst wo er irren sollte, müßte man’s gerne glauben.
(Carl Friedrich Zelter über Alexander von Humboldt)
Kosmos – Ein Lebenswerk
Ob das wohl noch stimmt? Mittlere Entfernung des Mondes von der Erde: 51.800 geogr. Meilen; siderische Umlaufzeit: 27 Tage 7 Std. 45’ 11,5“; Durchmesser des Mondes: 454 geogr. Meilen, nahe 1/4 des Erddurchmessers; körperlicher Inhalt: 1/54 des körperlichen Inhalts der Erde; etc. Viele weitere Zahlen und Daten folgen. Es schwirrt der Kopf wie einst im verhassten Physikunterricht. Aber dann! Mit unvergleichbar schönen Worten beschreibt Humboldt das „ewige Schweigen auf dem Monde“, die Leere der staubigen Weiten. Worte wie sie kein Astronaut jemals gefunden hat, obwohl die da waren und Humboldt nicht.
Humboldts Kosmos lesen heißt, den Geist eines einmaligen, universellen Werkes zu entdecken, in dem ein einziger Gelehrter, der dazu ein bedeutender Schriftsteller deutscher Sprache ist, die wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit bündelt und in ein Bild der gesamten mineralischen, pflanzlichen, tierischen, menschlichen, irdischen, geographischen und astronomischen Welt überführt. Kosmos lesen heißt, mir Schaudern zu denken an das Geschwafel und das Analphabeten-Deutsch der meisten Sachbücher unserer Tage.
Aber kann diese Schwarte aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch wirklich ernst genommen werden? Ein Buch, das so anmaßend wie umfassend ist? Ja, gerade deswegen. Kosmos ist der einzigartige, der vielleicht engagierteste, mit Sicherheit aber der letzte große „Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“, das letzte Aufbäumen eines Universalgelehrtens gegen die Zersplitterung der Wissenschaft und des Geistes. Kosmos ist das Dokument einer Zeitenwende.
Erste Ideen zu einer „Physik der Welt“ hat Humboldt bereits als 26-Jähriger entwickelt. Doch erst nach mehreren großen Forschungsreisen, langem Aufenthalt in Frankreich und der königlichen Berufung nach Berlin, verbunden mit einem festen Einkommen, wagte er sich 1834 an die Ausführung des Planes. 11 Jahre später erschien der erste Band.
Ich übergebe am späten Abend eines vielbewegten Lebens dem deutschen Publikum ein Werk, dessen Bild in unbestimmten Umrissen mir fast ein halbes Jahrhundert lang vor der Seele schwebte. In Manchen Stimmungen habe ich dieses Werk für unausführbar gehalten: und bin, wenn ich es aufgeben, wieder, vielleicht unvorsichtig, zu demselben zurückgekehrt. Ich widme es meinen Zeitgenossen mit der Schüchternheit, die ein gerechtes Misstrauen in das Maß meiner Kräfte einflößen muss.
(Alexander von Humboldt – Im Vorwort zu Kosmos)
Es folgten bis zum Jahre 1862 vier weitere Bände, der letzte postum, drei Jahre nach Humboldts Tod. Bis zuletzt hat er am Kosmos gearbeitet, dem Buch, das sein Lebenswerk krönen und das die über Jahrzehnte gesammelten Erkenntnisse bündeln und in einen großen Zusammenhang bringen sollte. Es wurden über dreitausend Seiten, dazu ein Atlas mit Karten, Schautafeln und Diagrammen. (Hätte er mehr Zeit gehabt, es wäre auch auf mindestens 35 Bände angewachsen, wie das große Reisewerk zu Amerika.) Das Buch war keineswegs der monomanische Gewaltakt eines Einzelnen, sondern das gebündelte Wissen seiner Zeit; Humboldt war enorm vernetzt, darin Vorläufer und Vorbild der modernen, globalisierten Wissenschaft. Mit hunderten Briefpartnern weltweit tauschte er sich aus, übernahm Anregungen, neue Messwerte und Erkenntnisse, wies alle Quellen gewissenhaft in Fußnoten nach und füllte ebendort ganze Seiten mit Passagen, die im eigentlichen Fließtext keinen Platz gefunden hatten oder finden konnten.
Was für ein Mann! Ich kenne ihn so lange, und doch bin ich von neuem über ihn in Erstaunen. (…) Er gleicht einem Brunnen mit vielen Röhren, wo man überall nur Gefäße unterzuhalten braucht und wo es von immer erquicklich und unerschöpflich entgegenströmt.
(Johann Wolfgang Goethe über Alexander von Humboldt)
Alexander von Humboldt war von rastloser Neugier getrieben, sein Wissensdurst nicht zu laben, sein Hunger nach Erkenntnis nicht zu stillen. Sein größtes Verdienst aber war, seine Mitmenschen und die Nachwelt daran teilhaben zu lassen, sein Wissen weiterzutragen, es Fragen und Prüfungen auszusetzen, es stetig zu erweitern. Deshalb hat er nahezu 30 Jahre lang am Kosmos geschrieben, deshalb ist er nicht fertig geworden.
Kosmos lesen? – Unbedingt!
Freilich ist einiges obsolet in diesem Werk, große Teile (vor allem des dritten und vierten Bandes) nur noch interessant für Fachleute einzelner Disziplinen oder für Wissenschaftshistoriker. Dennoch lohnt es sich, den Kosmos zu lesen, allein wegen der unübertroffenen sprachlichen Brillanz und Eleganz. Besonders der zweite Band begeistert (nicht nur mich) bis heute. Hier gibt Humboldt „Anregungsmittel zum Naturstudium“ und liefert einen Abriss über die „Geschichte der physischen Weltbeschreibung“. Dichterische Naturbeschreibung (Literatur), Landschaftsmalerei (Bildende Kunst), die Auseinandersetzung mit der Natur in unterschiedlichen Epochen und Kulturkreisen (Kulturgeschichte und -wissenschaft); das ist wie eine Enzyklopädie, in der Geistes- und Naturwissenschaft nicht als getrennte Geschwister betrachtet werden, sondern als Zwilling, in der das Allgemeine und das Besondere versöhnt werden; das Ganze geschrieben in wundervollem Deutsch.
Der Text verlangt dabei vom Leser höchste Konzentration, denn Humboldt will so exakt wie möglich sein, ohne sich gestelzter Kanzleisprache oder holpernder Sätze zu bedienen. Der Leser darf ihm gewissermaßen beim Denken und Schreiben über die Schulter schauen, darf beobachten, wie sich Gedanke an Gedanke reiht, ist dabei, wenn sich der Ideenfluß immer weiter verzweigt und beobachtet fasziniert, wie dabei die Orientierung niemals verloren geht, alles immer wieder „eingenordet“ wird. Humboldt zu lesen ist ästhetischer Genuss und geistiger Gewinn.
Auf den Fotos abgebildet ist der Kosmos, den 2004 „Die andere Bibliothek“ (damals noch unter dem Dach des Eichborn-Verlages) herausgegeben hat. Es war die erste vollständige Ausgabe (in einem Band) seit beinahe 50 Jahren. Beigegeben war auch der Atlas zum Kosmos von Heinrich Berghaus. Im Juli brachte „Die andere Bibliothek“ (mittlerweile unter neuer Ägide wieder in Schwung gekommen) eine Neuauflage dieser lange vergriffenen Folio-Edition heraus.
Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Ottmar Ette und Oliver Lubrich
Gebunden im Folioformat, fadengeheftet, 941 Seiten, in einem Schuber mit „Physikalischer Atlas zu Kosmos“ von H. Berghaus
Berlin: Die andere Bibliothek 2014
Wem der Kosmos zu dick ist oder wer mehr über Humboldts Leben und Werk wissen möchte, dem empfehle ich Alexander von Humboldt. Mein vielbewegtes Leben. Frank Holl hat hier eine umfangreiche und kluge Auswahl von Passagen aus Humboldts Werken, Briefen und anderer Lebenszeugnisse zusammengestellt und sie mit kurzen biografischen Überleitungen versehen. Ein schön gestaltestes Lesebuch mit vielen Abbildungen.
Der Forscher über sich selbst und seine Werke
Ausgewählt und mit biographischen Zwischenstücken versehen von Frank Holl
Gebunden, fadengeheftet: 283 Seiten
Frankfurt/M.: Eichborn 2009